Braucht die Tradition „eigene“ Bischöfe?
05. OKTOBER 2024
Bischof Rifan der Personalprälatur Campos - Vorbild künftig möglicher Lösungen?
Mit einem Beitrag von Fr. Antoine-Marie Araujo von der dominikanischen Fraternity of Saint Vincent Ferrer auf Rorate Caeli hat die im Frühsommer begonnene Debatte über ein „Ordinariat für die Tradition“ eine aktuelle Fortsetzung gefunden. Ein solches Ordinariat würde die Ex-Ecclesia-Dei-Gemeinschaften zumindest in einem gewissen Umfang von den in Rom mit den Pontifikaten wechselnden Moden des Kirchenverständnisses entkoppeln und ihren Priestern und den von ihnen betreuten Gläubigen mehr Zukunftssicherheit geben. Fr. Araujo legt in diesem Beitrag besonderen Wert darauf, die Stellung eines solchen Ordinariats in der gesamtkirchlichen Ordnung näher zu bestimmten und die von Joseph Shaw ausgesprochene Befürchtung zu entkräften, ein solches Ordinariat könne zu einem „Ghetto“ für die Tradition gemacht werden, um sie immer weiter vom Mainstream der nachkonziliaren Kirche wegzudrängen.
Zusätzlich kann man für den Artikel von Fr. Araujo auch einen aktuellen Anlaß vermuten. Der Tod von Bischof Tissier de Mallerais von der Piusbruderschaft hat dem Thema „Bischöfe für die Tradition“ zweifellos neue Aktualität verliehen – selbst wenn die Piusbruderschaft gar nicht zum Kreis der Ex-Ecclesia-Dei-Gemeinschaften gehört, um die es bei der Diskussion um ein Ordinariat zumindest vordergründig zu gehen scheint. Trotzdem erscheint es sinnvoll, die Situation der Bruderschaft mit ins Auge zu fassen.
Die SSPX hat sich durch die entgegen dem Kirchenrecht ohne päpstlichen Auftrag erfolgten, aber gültigen Bischofsweihen von 1988 faktisch eine ordinariats-ähnliche Stellung verschafft. Einerseits wurde sie dafür mit der Exkommunikation dieser Bischöfe bestraft und gilt seitdem als „halb-schismatisch“. Andererseits wurde diese Positionierung durch die Aufhebung der Exkommunikation der damals geweihten Bischöfe von Papst Benedikt 2009 sowie durch die pauschale Erteilung einer Erlaubnis zum Beichthören und (bedingt) zur Eheassistenz durch Papst Franziskus 2017 in einem gewissen Umfang relativiert. Die Bruderschaft steht zwar was das Administrative betrifft nicht in voller Gemeinschaft mit Rom, gehört aber doch „irgendwie“ dazu. Wie hier schon vor fast 10 Jahren zu lesen war: In der Kirche der Zukunft wird man sich an ein Leben in Grauzonen gewöhnen müssen.
Die romtreuen Ex-Ecclesia-Dei-Gemeinschaften stehen sich demgegenüber deutlich schlechter. Sie sind für jede seelsorgerliche Tätigkeit und insbesondere für die Spendung der Sakramente vollständig auf die Genehmigung des Ortsordinarius angewiesen, und da ihnen keine „eigenen“ Bischöfe zugeordnet sind, benötigt die Erteilung von Priesterweihen jeweils eine besondere Genehmigung Roms für den weihenden Bischof – sei es der Ortsordinarius selbst oder ein auswärtiger der Tradition nahestehender Bischof. Diese Genehmigung wird, wie in der Vergangenheit mehrfach sichtbar geworden ist, eher restriktiv erteilt und kann durchaus verweigert werden. Besonders hinsichtlich der Priesterweihen geht bei den EEF-Gemeinschaften gar nichts ohne römische Zustimmung, und damit verfügt „Rom“, wer auch immer im konkreten Fall dort das Sagen hat, über ein starkes Machtmittel, um diese Gemeinschaften zu disziplinieren oder gegebenenfalls aussterben zu lassen.
Die Gewährung eines Ordinariats für die Tradition würde dieses Machtmittel zwar nicht völlig aufheben – wäre aber doch ein unverkennbares Zeichen dafür, daß die Lebensfähigkeit und die Zukunft der Priesterbruderschaften als in Liturgie und Seelsorge der Tradition verpflichtete Gemeinschaften von Rom anerkannt und nicht mehr in Frage gestellt wird. Und eben deshalb erscheint es einigermaßen unrealistisch, angesichts der Traditionsfeindlichkeit des gegenwärtigen römischen Regimes über die Einrichtung eines Ordinariats auch nur nachzudenken – von dahingehenden Forderungen ganz zu schweigen. Der Modernismus an der Macht will sich die Option offenhalten, die Tradition bzw. die sie stützenden Priester und Gemeinschaften gegebenenfalls ganz aus dem offiziellen Rahmen der Kirche herauszudrängen.
Andererseits rückt das Ende des Pontifikats Bergoglio unaufhaltsam näher, und wenn auch völlig ungewiß ist, wie es danach weitergeht, ist es durchaus sinnvoll, über die mit dem Stichwort „Ordinariat“ aufgeworfenen Perspektiven auch heute schon nachzudenken. Die in der Warnung vor einem „Ghetto“ ausgesprochene Befürchtung bietet dazu einen durchaus brauchbaren Ansatz – zumindest wenn man dabei im Hinterkopf behält, daß das „Ghetto“ nicht nur ein Instrument der Ausgrenzung und Unterwerfung der jüdischen Gemeinden unter dem Regiment allerchristlichster Herrscher bedeutete, sondern diesen Gemeinden auch einen relativen Schutz und eine Möglichkeit zur Bewahrung ihrer Identität bot. Und umgekehrt hat hat die grenzenlose „Integration“ zuerst der Juden (und später dann der christlichen Kirchen) in ein immer stärker religionsfeindliches säkulares Umfeld nicht nur positive Auswirkungen gehabt, ganz und gar nicht.
Das Spannungsverhältnis zwischen weitgehender Absonderung und weitgehender Integration ist also keinesfalls problemlos zugunsten einer Seite aufzulösen. Um mit dieser Frage einigermaßen leidenschaftslos umzugehen, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die reichhaltige Landschaft der bereits vom heutigen Kirchenrecht gebotenen Möglichkeiten zu werfen. Stichworte sind hier (versuchsweise sortiert in der Tiefe der gegenseitigen Abgrenzung) Rituskirche – Anglikanische Ordinariate – Militätordinariate – Peronalpfarrei/Personalprälatur und als letztes die „Zwei Formen-eines-Ritus-Fiktion“ nach Benedikts Summorum-Pontificum.
Die verschiedenen „unierten“ Rituskirchen der östlichen Traditionen werden letztlich nur durch die Einheit mit dem Papst zusammengehalten, der dann auch eine rechtliche und lehrmäßige „Basiseinheit“ garantiert. Ansonsten leben sie weitgehend nebeneinander her. Ihre Jurisdiktionsgebiete können sich problemlos überlagern. Mitglied wird man (zumindest nach der in Europa auch weitgehend durchgesetzten Theorie) durch Geburt und ethnische Zugehörigkeit Die Kontakte untereinander und mit der „Mehrheitskirche“ sind schon alleine aufgrund der zumindest in den ersten Generationen bestehenden Sprachdifferenzen sehr schwach, Ein Wettbewerb um Mitglieder findet nicht statt, Übertritte werden durch das Kirchenrecht stark erschwert.
Bei den Anglikanischen Ordinariaten steh es teilweise ähnlich – aber sie sind hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft insoweit „fluider,“ daß ihre Herauslösung aus der anglikanischen Staatskirche (die vorzugsweise nicht auf individueller, sondern auf gemeindlicher Ebene erfolgt) noch nicht abgeschlossen ist. Entscheidendes Kriterium hier ist die Herkunft aus der anglikanischen Tradition – die in sich wieder ein sehr weites Feld abdeckt. Wie zukunftssicher sie als Sonderstruktur sind, wird sich noch zeigen.
Wieder einen anderen Typus stellen die Militärordinariate dar. Sie überlagern in der Regel sämtlichen Diözesen des Staates, auf dessen Territorium sie eingerichtet sind, und gelten dann auch für Militärpersonal, das irgendwo im Ausland stationiert ist. Für die Gemeindemitglieder ist die Zugehörigkeit nicht exklusiv. Sie bleiben Mitglieder ihrer Heimatdiözese, auch wenn sie in der Kaserne oder im Ausland vom Ordinariat betreut werden. Scheiden sie aus dem Militär aus, endet auch ihre Beziehung zum Militärordinariat.
Ebenfalls nicht-exklusiv ist im Wesentlichen die Zugehörigkeit zu Personalpfarreien des alten Ritus, die nach dem Willen des gegenwärtigen Pontifikats nicht neu errichtet werden dürfen, und zu der einzigen bisher bestehenden „Apostolischen Personaladministration“ von Campos in Brasilien. Die Personaladministration mit ihrem Bischof Rifan, der im kommenden Jahr 75 Jahre alt wird, hat praktisch alles, was eine katholische Diözese ausmacht . Kirchen, Pfarreien, Konvente, Sozialeinrichtungen, ein Priesterseminar…, nur kein eigenes Territorium: Sie liegt auf oder über dem Territorium der Diözese Campos, der sie „irgendwie“ zugeordnet, aber nicht untergeordnet ist.
Warum das so ist und inwieweit das auch funktioniert wird erkennbar bei einem (sehr kurz gefassten) Blick auf die Geschichte der Personaladministration. Sie entstand aus einem regelrechten Schisma in der Folge der Liturgiereform, als sich 1988 der damalige Bischof von Campos Antônio de Castro Mayer mit einem großen Teil seiner Pfarreien der Piusbruderschaft zuwandte und Rom einen neuen Bischof für die Diözese mit den „romtreu“ verbliebenen Pfarreien und Institutionen einsetzte. Danach bestand in Campos eine echte „Kirchenspaltung“, bis es 2002 (also noch unter Papst Johannes Paul II.) durch Vermittlung der Kardinäle Castrillón Hoyos und Ratzinger zu einem Kompromiss kam, der einerseits die Teilung in unterschiedliche Verwaltungs- und Rituseinheiten bestätigte, andererseits aber die Abspaltung der Altrituellen von Rom eben durch die Einführung der neuen Struktur einer Personaladministration beendete. Seitdem gibt es in Campos ein einigermaßen geregeltes Nebeneinander, das neben gelegentlichen Reibereien teilweise auch Züge eines Miteinander aufweist.
Theoretisch könnte man daraus den einen oder anderen Zug als Vorbild für die Gestaltung weiterer „Personaldministrationen“ vielleicht auf Grundlage nationaler oder kontinentaler Territorien ableiten; das kirchenrechtliche Instrumentarium läge bereit. Warum es praktisch bisher nicht dazu gekommen ist und wohl auch bis auf Weiteres nicht dazu kommen wird, erschließt sich beim Blick auf den von Papst Franziskus mit Traditionis-Custodes so brutal abgebrochenen Versuch seines Vorgängers Benedikt XVI, mit Summorum-Pontificum ein geregeltes Nebeneinander „vorkonziliarer“ und „nachkonziliarer“ Elemente in Liturgie und Lehre der Kirche zu ermöglichen. Wer will, mag darin ein Konzept der Schaffung von Oasen in unfruchtbarer Landschaft erkennen, die sich vielleicht bei einer Änderung des Großklimas wieder ausbreiten können.
Der Versuch Benedikts, die beharrenden und die wegstrebenden Richtungen zusammenzuhalten, beruhte im Wesentlichen darauf, die Unterschiede zwischen „vorkonziliarem“ und „nachkonziliarem“ Kirchenverständnis in einer Perspektive aus der „Hermeneutik der Kontinuität“ wahrzunehmen. Dieser Versuch ist nicht prinzipiell aussichtslos: Die Dokumente des 2. Vatikanums sind – insbesondere wenn man die zu ihnen führenden Beratungen der Konzilsväter mit in den Blick nimmt – mit einiger Kraftanstrengung durchaus im Rahmen einer solchen Kontinuität interpretierbar. Sowohl Johannes Paul II. als auch Benedikt XVI. haben sich um solche Interpretationen bemüht, dabei aber geflissentlich übersehen, daß diese Dokumente sowohl von ihrer Vorbereitung und gewollt uneindeutigen Formulierung her als auch nach ihrer faktischen Auslegung und Umsetzung nach dem Konzil in wesentlichen Teilen auf Bruch mit der von Christus begründeten und den Aposteln überlieferten Kontinuität der Kirche abzielen oder zumindest instrumentierbar sind. Sie sind gewollt mehrdeutzig, und die jeweilige Deutung liegt in den Händen der jeweiligen Machthaber.
Es ist durchaus ein Verdienst des gegenwärtigen Pontifikats, in zahlreichen Erklärungen von Papst und Würdenträgern, nicht zuletzt aber auch in Traditionis Custodes und Folgedokumenten, unmißverständlich ausgesprochen zu haben, daß sie das Konzil (und die sich darauf berufende Liturgie-Reformation) als Ausdruck eines Bruches mit der Kirche der Vergangenheit verstehen und daß ihre Bestrebungen im Wesentlichen darauf gerichtet sind, diesen Bruch zu vervollständigen und eine neue, endlich dem Menschen und seiner jeweiligen Zeit gemäße Institution zu schaffen. In den letzten Jahren hat sich dieser Bruch enorm vertieft – wenn man auch nicht übersehen darf, daß es auch innerhalb der liturgischen Formen des Novus Ordo durchaus „gut katholisch“ gebliebene Bereiche gibt – in Nordamerika sind das vielleicht sogar mehrheitsfähige, in Mitteleuropa eher kleine Minderheiten.
Marginalisierung und letztliche Austreibung aller sichtbaren Elemente der Tradition und Identität der Kirche Jesu Christi sind für die Kräfte des Bruches unentbehrliche Voraussetzungen, ihre Politik weiter voranzutreiben. „Unsichtbare“ Elemente wie z.B. viele Glaubensdogmen spielen demgegenüber nur eine geringe Rolle. Welcher „moderne Mensch“ kann denn heute noch die Feinheiten der Tritintätstheologie wahrnehmen, die im Frühchristentum zu reichserschütternden Bürgerkriegen führten? Der moderne Mensch interessiert sich nur noch für das, was man im Video zeigen oder als „money quote“ von 3 Druckzeilen Länge präsentieren kann – in Erwartung positiver Resonanz der Öffentlichkeit, versteht sich. Von daher erscheint es als Illusion, von diesem Kirchenregiment irgendetwas zu verlangen oder gar zu erwarten, das ein Überleben der apostolischen Tradition, sei es in Oasen, sei es in Ghettos, ermöglicht. Für derartige die Verschmelzung mit dem Zeitgeist störenden Elemente gibt es in einer solchen Nicht-Mehr-Kirche keinen Platz. Allzu hoffnungsvolle Debatten über Ordinariate oder Prälaturen für die Tradition sind derzeit müßig.
Trotzdem ist die hier nur in Stichworten angedeutete Betrachtung von mit „eigenen“ Bischöfen ausgestatteten Sonderstrukturen in der Kirche durchaus nützlich. Insbesondere der Blick auf Campos erscheint interessant: Hier scheuten die Anhänger der apostolischen Tradition nicht vor dramatischen Schritten in ein kirchenrechtlich unbestreitbares Schisma inklusive unerlaubter Bischofsweihen zurück, um dem von ihnen befürchteten Abgleiten in modernistische Häresien zu widerstehen. Es ist gut vorstellbar, daß ähnliche Schritte bei Fortdauern des Römischen Kurses auf Bruch auch anderswo unvermeidlich werden.
Abspaltungen aus der vollen rechtlichen Gemeinschaft mit Rom sind, wie nicht nur in Campos zu sehen, unter besseren Rahmenbedingungen als den heute herrschenden durchaus heilbar. Verfestigungen in der Häresie und Abwendung vom apostolischen Erbe und Auftrag (Sakramente!) der Kirche sind, wie aus der Geschichte fast aller Erben der „Reformationen“ Luthers, Calvins & Co zu ersehen, kaum jemals wieder umgzukehren. Wer sich in den Strom der Zeitgeister begibt, kommt darin um.
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