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„Evangelium Vitae“ und die Kultur des Todes.

25. März 2025

1 - Liturgie

Kolorierter Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik von 1493. Die drastisch gezeichneten Knochenmänner und -frauen tanzen mit ihren Instrumenten im Kreise um ein Nichts.

Volksbelustigung in der Kultur des Todes

Am 25. März 1995 – das ist jetzt also genau 30 Jahre her – ließ Papst Johannes Paul II seine Enzyklika Evangelium Vitae veröffentli­chen. Im Mittelpunkt des etwa 150 Schreibma­schinenseiten umfassenden Dokuments steht die Absage an die seit den 90er Jahren in vielen Ländern verstärkt normalisierte Abtreibung, an den Mord an ungeborenen Kindern, und die damit verbundene grundsätzliche Leugnung des Lebenswertes und der Lebenswürde aller Men­schen. Zur Überschrift des Dokuments erklärt Abschnitt zwei in programmatischer Klarheit:

Es begint ein Zitat

Der Mensch ist zu einer Lebensfülle berufen, die weit über die Dimensionen seiner irdischen Existenz hinausgeht, da sie in der Teilhabe am Leben Gottes selber besteht. Die Erhabenheit dieser übernatürlichen Berufung enthüllt die Größe und Kostbarkeit des menschlichen Lebens auch in seinem zeitlich-irdischen Stadium. Denn das Leben in der Zeit ist Grundvoraussetzung, Ein­stiegsmoment und integrierender Bestandteil des gesamten einheitlichen Lebensprozesses des menschlichen Seins. Eines Prozesses, der unerwarteter- und unverdienterweise von der Verheißung erleuchtet und vom Geschenk des göttlichen Lebens erneuert wird, das in der Ewigkeit zu seiner vollen Erfül­lung gelangen wird (vgl. 1 Joh 3, 1-2). (...)

Die Kirche weiß, daß dieses Evangelium vom Leben, das ihr von ihrem Herrn anvertraut wurde, im Herzen jedes gläubigen, aber auch nicht gläubigen Men­schen tiefen und überzeugenden Widerhall findet, weil es seinen Erwartun­gen, während es unendlich über diese hinausgeht, überraschenderweise ent­spricht.

Das ist eine in der Tat katechismusreife Formulierung – die aber nicht aus der Eingebung eines Augenblicks heraus gefunden oder gar erfunden wurde, sondern tiefe Wurzeln in Glauben und Lehre der Kirche seit apostolischen Zeiten hat.

Neben dem so in immer neuen Perspektiven und Zusammenhängen gepredigten „Evangelium des Lebens“ hat die Enzyklika jedoch noch einen anderen thematischen Schwerpunkt: Als Gegenpol zu allem, was das Evangelium des Lebens aussagt, iden­ti­fiziert der Papst hier eine „Kultur des Todes“ – und das ist soweit wir sehen in dieser direkten Form eine Neuheit für die Lehre der Kirche. Vom „Herrn dieser Welt“ und seinen Verlockungen ist schon in den drei synoptischen Evangelium m Bericht von der Versuchung Jesu nach seinem 40-tägigen Fasten die Rede, und das Motiv ist bis in die jüngste Neuzeit hinein ein immer wiederkehrendes Stichwort zahlloser Predigten und erbaulicher Schriften. Aber mit „Kultur des Todes“ rückt Papst Johannes Paul II.auch den menschengemachten Anteil an Tod und Verderben in den Vordergrund – ohne den Teufel, der mehrfach in dieser Funktion benannt wird, als dessen eigentlichen Urheber zu verschweigen.

In Abschnitt 12 spricht er ausdrücklich davon, daß die gesellschaftliche Tendenz der „Kultur des Todes“ begünstigt und vorangetrieben wird durch eine alles bedrohende und durchdringende Struktur der Sünde, die letztlich darauf beruht, daß das Handeln der Menschen immer ausschließlicher von egoistischen und extrem kurzsichtigen Eigen­in­teressen bestimmt wird – die absolute Geltung gegenüber allen darüber hinausgehenden Aspekten beanspruchen. Und das gilt nicht nur in Hinblick auf die nur noch dem Lust­prinzip folgenden Ordnung bzw. Unordnung der Sexualität, sondern hinsichtlich prak­tisch aller Lebensbereiche. Dabei schreckt er auch nicht vor starken und ganz konkreten Ausführungen zurück, die man sich heute aus dem Mund eines hohen kirchlichen Würdenträgers kaum noch vorstellen kann:

Es begint ein Zitat

Der alte Pharao, der die Anwesenheit der Söhne Israels und ihre Vermehrung als Alptraum empfand, setzte sie jeder nur möglichen Unterdrückung aus und befahl, jedes männliche Neugeborene der jüdischen Frauen zu töten (vgl. Ex 1, 7-22). Genauso verhalten sich heutzutage viele Mächtige der Erde. Sie emp­fin­den die derzeitige Bevölkerungsentwicklung als Alptraum und befürchten, daß die kinderreicheren und ärmeren Völker eine Bedrohung für den Wohl­stand und die Sicherheit ihrer Länder darstellen. Statt diese schwerwiegenden Probleme aufzugreifen und sie unter Achtung der Würde der einzelnen und der Familien und des unantastbaren Rechtes jedes Menschen auf Leben zu lösen, fördern sie daher lieber eine massive Geburtenplanung und setzen sie mit jeglichem Mittel durch. Selbst die Wirtschaftshilfen, die zu leisten sie bereit wären, werden ungerechterweise von der Annahme einer geburten­feind­lichen Politik abhängig gemacht. (Abschnitt 16)

Und geradezu pro­phe­tisch klingen seine daraus im folgenden Abschnitt gezogenen Mahnungen:

Es begint ein Zitat

Das 20. Jahrhundert wird als eine Epoche massiver Angriffe auf das Leben, als endlose Serie von Kriegen und andauernde Vernichtung unschuldiger Men­schenleben gelten. Die falschen Propheten und Lehrer erfreuen sich des größtmöglichen Erfolges. Jenseits der Absichten, die unterschiedlicher Art sein und möglicherweise sogar im Namen der Solidarität überzeugende For­men annehmen können, stehen wir tatsächlich einer objektiven „Verschwö­rung gegen das Leben“ gegenüber, die auch internationale Institutionen einschließt, die mit großem Engagement regelrechte Kampagnen für die Verbreitung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation und der Abtreibung anregen und planen.

Schließlich läßt sich nicht leugnen, daß sich die Massenmedien häufig zu Komplizen dieser Verschwörung machen, indem sie jener Kultur, die die Anwendung der Empfängnisverhütung, der Sterilisation, der Abtreibung und selbst der Euthanasie als Zeichen des Fortschritts und als Errungenschaft der Freiheit hinstellt, in der öffentlichen Meinung Ansehen verschaffen, während sie Positionen, die bedingungslos für das Leben eintreten, als freiheits- und entwicklungsfeindlich beschreibt.

Spätestens in den ersten Jahrzehnten des 3. Jahrtausends wurden und werden diese Aussagen voll bestätigt. Man muß sie allerdings noch durch die Punkte „Genderwahn“ und „Kriegstreiberei“ ergänzen - das Instrumentarium der Kultur des Todes wird ständig ausgebaut.

Bestätigt werden auch die vom damaligen Papst gezogenen weiteren Folgerungen, die weit über den vermeintlich privaten und auf den eigenen Lebensbereich beschränkten Raum der individuellen Moralität hinausgehen:

Es begint ein Zitat

Das ursprüngliche, unveräußerliche Recht auf Leben wird auf Grund einer Parlamentsabstimmung oder des Willens eines — sei es auch mehrheitlichen — Teiles der Bevölkerung in Frage gestellt oder verneint. Es ist das unheilvolle Ergebnis eines unangefochten herrschenden Relativismus: das »Recht« hört auf Recht zu sein, weil es sich nicht mehr fest auf die unantastbare Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen wird. Auf diese Weise beschreitet die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln den Weg eines substantiellen Totalitarismus. …) (20)

Alles geschieht scheinbar ganz auf dem Boden der Legalität. ( ...) In Wahrheit stehen wir lediglich einem tragischen Schein von Legalität gegenüber, und das demokratische Ideal, das es tatsächlich ist, wenn es denn die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt, wird in seinen Grundlagen selbst verraten.

Quasi als Zusammenfassung folgt dem ein niederschmetternder Befund, in dem man nicht nur eine allgemeine Kritik an den außerhalb der Kirche in der Gesellschaft herr­schenden Zeitgeistern sehen kann und muß. Indirekt, aber durchaus zutreffend, stellt Johannes Paul II. hier auch den vom „Konzilspapst“ Johannes XXIII. verkündeten Optimismus hinsichtlich eines zunehmenden Gleichklangs von weltlicher Entwicklung und offenbarungs-begründeter Moralität in Frage und erteilt dem ganz auf diesen behaupteten Gleichklang ausgerichteten „Konzilsgeist“ eine unüberhörbare Absage, die nicht nur kommendes Unheil und künftige Untaten vorhersieht, sondern auch nicht davor zurückschreckt, denen das Urteil zu sprechen:

Es begint ein Zitat

Wir müssen zum Herzen des Dramas vorstoßen, das der heutige Mensch erlebt: die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für das vom Säkularismus beherrschte soziale und kulturelle Umfeld typisch ist, der mit seinen durchdringenden Fangarmen bisweilen sogar christliche Gemeinschaften auf die Probe stellt.

Wer sich von dieser Atmosphäre anstec­ken läßt, gerät leicht in den Strudel eines furchtbaren Teufelskreises: wenn man den Sinn für Gott verliert, verliert man bald auch den Sinn für den Men­schen, für seine Würde und für sein Leben; die systematische Verletzung des Moralgesetzes, besonders was die Achtung vor dem menschlichen Leben und seiner Würde betrifft, erzeugt ihrerseits eine Art fortschreitender Verdunke­lung der Fähigkeit, die leben­spendende und rettende Gegenwart Gottes wahrzunehmen. (21)

Diese Verdunkelung, diese Blindheit gegenüber der Übernatur ist inzwischen in weitestem Umfang eingetreten, Sie erfaßt nicht nur den größten Teil der fortschritts­stolzen ehemaligen westlichen Industriegesellschaften, sie ist auch nicht nur „bisweilen“ , sondern alarmierend tief in die christlichen Gemeinschaften eingedrungen. Besonders tief auch in die katholische Kirche, wie sie sich im gegenwärtigen Pontifikat präsentiert und wo man buchstäblich alle von Papst Johannes Paul II. getroffenen Maßnahmen zur Festigung einer auf die Botschaft des Evangeliums gegründeten Moralität in Kirche und Gesellschaft aufgehoben, bestritten oder schlichtweg „vergessen“ hat. Der zerstörerische Umbau der von dem Autor von „Evangelium Vitae“ gegründeten Akademie für das Leben ist ja nur ein Beispiel dafür.

Wer heute so wie diese Enzyklika vom Widerspruch zwischen dem Säkularismus und dem Sinn der Menschen für die göttliche Ordnung sprechen wollte, wer befürchtet, von den Fangarmen der Gottlosigkeit in einen furchtbaren Teufelskreis gezogen zu werden, der Individuen und Gesellschaft in totalitäre Abhängigkeit zwingt – der würde von den Hofschranzen des gerade zu Ende gehenden Pontifikats mit den stärksten Bannflüchen belegt und des Verrates an den großen und unwiderruflichen Errungenschaften DES KONZILS ® beschuldigt – wo Johannes Paul II. doch nur mit einigen der schlimmsten Irrtümer der sich hinter diesem Konzil versteckenden Ungeister aufräumen und deren Totentanz ein Ende setzen wollte.

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Nach Fertigstellung dieses Artikels lesen wir auf katholisch.de , daß ein Prof. Stephan Goertz von der Universität Mainz die Moraltheologie von Johannes Paul II. als geschei­tert betrachtet: Das dort vertretene Konzept menschlicher Sexualität könne als als „der letzte große, am Ende gescheiterte Versuch“ interpretiert werden, "die vormodernen Überlieferungen christlicher Sexualmoral in die Gegenwart zu retten".

Nun liegt es uns fern, die von Johannes Paul II. gelehrte „Theologie des Leibes“ in all ih­ren Aspekten für gelungen zu halten. Dafür haben wir uns zu wenig damit beschäftigt. Aber die Formulierung „letzter Versuch, die vormoderne Überlieferung in die Gegenwart zu retten“ macht uns doch etwas skeptisch – das klingt zu sehr nach‚ab auf den Müll‘. Und zwar nicht nur für die Lehre Johannes Pauls II. sondern für alles, was die christliche Überlieferung bis dahin zum Thema zu sagen hat.

Damit erscheint Goertz als eine (von vielen) lebende Bestätigungen der These des Papstes aus Polen, daß der Sinn des „heutigen Menschen“ für Gott und den Menschen selbst „verfinstert“ ist, daß nicht nur die moderne Gesellschaft, sondern auch die moder­ne Theologie Gott und die übernatürliche Sphäre überhaupt praktisch aus dem Auge verloren, wenn nicht gar „abgeschafft“ hat.

Goertz hat die „Autonomie als theologisch-ethisches Moralprinzip“ zu seinem For­schungssschwerpunkt gemacht. Was brauchen wir da noch Überlieferung und Gottes Wort, wir machen uns unsere Moral selbst. Motto: Die Wissenschaft hat festgestellt ...
In diesem zu allem fähigen Wissenschaftsbetrieb tummelt sich Goertz übrigens bereits seit Anfang der 90er Jahre – also ziemlich genau seit eben der Zeit, als Papst Johannes-Paul letztlich vergebens versuchte, eine bereits im säkularistischen Sumpf versinkende Theologie der Gottlosigkeit wieder auf einen katholischen Kurs zu bringen.

Der Kasus ist in mindestens zweifacher Hinsicht lehrreich: Zum ersten natürlich demon­striert er die Feigheit, Korruption und vielleicht auch Ahnungslosigkeit der deutschen Bischöfe, die zur Beauftragung solchen Lehrpersonals ihre Zustimmung geben und dann auch noch ihre künftigen Priester (oder sollte man besser sagen „Seelsorger*innen) von ihnen verderben lassen. Zum zweiten hilft gerade das dazu, die Rolle des gegenwärtigen Papstes in diesem Prozess von Zerfall und Zersetzung nicht überzubetonen: Franziskus und seine Lehren sind nicht die Ursache des Elends, sondern nur dessen bisher am deutlichsten zu Tage tretenden Symptome.

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