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Nachdenken über Spiritualitäten

03. Juni 2025

2 - Theologie

Drei Heiligenbilder nebeinander Montiert. Das erste zeigt die Emaus-Szene mit Jesus und den beiden Jüngern in moderner Kleidung, einer der beiden Jünger hat dunkelbraun afrikanische, der andere europäisch helle Hautfarbe; Jesus selbst ist orientalisch braun. Das mittelre Bild zeigt den hl. Franziskus in Kinderbuchartig vereinfachter Form und ohne Gesichtszüge. Das dritte zeigt eine klassische „Mater Dolorosa“ im Beuroner Stil.

So verschieden sind die Geschmäcker – und die Spiritualitäten auch.

Was soll das überhaupt sein: „Spiritu­alität“? Google bietet eine Vielfalt von Definitionen, und Wikipedia bringt ein wahres Chaos von Pseudo-Gelehr­samkeit. Im katholischen Bereich ist der Begriff zwar nicht unbekannt, wird aber von Vielen zurückhaltend bis selten gebraucht – er scheint etwas von „spinnert“ an sich zu haben. Was natürlich ein grobes Mißverständnis wäre.

Unser Ausgangspunkt hier soll sein: „Spiritualität“ bezieht sich auf das geistige Leben von Menschen und die verschiedenen Formen, in denen sich dieses über die materielle Sphäre hinausreichende Leben und Denken äußert – und von dieser höheren Sphäre auch wieder auf das alltägliche Leben zurückwirkt. Und da die Menschen im konkreten Leben nun einmal sehr verschieden sind, steht „Spiritualitäten“ im Plural. Dieses Ver­ständnis von „Spiritualität“ ist einerseits konfessions- und sogar religionsübergreifend – in allen großen Weltreligionen gibt es verschiedene Arten, sich den fundamentalen Einsichten und letzten Geheimnissen der jeweiligen Tradition zu nähern. Das hat aber nichts mit Eklektizismus, Synkretismus oder Relativismus zu tun, zumindest nicht zwangsläufig: „Schriftgelehrte“ und Mystiker (um zwei der bekanntesten Spiritualitäts­typen anzusprechen) gibt es bei Christen und Juden, Buddhisten oder Moslems glei­chermaßen, und wenn es auch an den Rändern manchmal Vermischungen geben mag, ist das doch nicht die Regel. Als Katholiken haben wir ein gutes Anschauungsbeispiel dafür, was mit Spiritualität gemeint ist und daß es so viele unterschiedliche Formen davon gibt, wenn wir den Stimmen im endlosen Chor der Heiligen lauschen und den Blick auf die Vielfalt der Orden und frommen Gemeinschaften werfen, die die Kirchengeschichte hervor­ge­bracht hat – und in der Gegenwart leider immer schneller wieder verliert.

Was den Benediktiner zum Benediktiner, den Franziskaner zum Franziskaner, und den Trappisten zum Trappisten macht, sind nämlich nicht oder nur zu allerletzt die ins Auge fallenden Unterschiede im Habit, sondern Unterschiede in der Spiritualität, die sich in ganz erheblichen Unterschiede in Lebensweise oder Ordensregel niedergeschlagen ha­ben. Ein ins mittelalterliche Europa verschlagener Beobachter vom chinesischen Kaiser­hof hätte wohl einige Zeit gebraucht, bis er herausgefunden hätte, daß Franzis­kaner und Benediktiner keine Angehörigen verschiedener Religionen waren. Eine große Rolle bei der Herausbildung der Ordens-Spiritualitäten spielten in der Geschichte die Persönlich­keiten, die Charaktereigenschaften, eben die „Spiritualitäten“ der jeweiligen Ordens­grün­der oder -reformer: Da gibt es ein breites Spektrum vom – oberflächlich betrachtet – vielleicht als Menschenfeind erscheinenden Einsiedler, der sein Leben in Betrachtung und Buße für seine und der anderen Sünden verbringt, auf der einen Seite, bis auf der anderen Seite dem Volksprediger, der beim täglichen Bad in der Menge mög­lichst viel von seiner Gottesbegeisterung an möglichst viele Mitmenschen weitergeben will.

Das Phänomen der Spiritualität mag sich beim Blick auf die Orden und ihre Gründer oder bekannteste Vertreter besonders sinnfällig darstellen, aber Spiritualität war und ist heute weniger als je ein Privileg der hauptberuflichen Frommen im Ordensgewand. Entsprechend den mittelalterlichen gesellschaftlichen Verhältnissen ist über die Spiri­tualität der einfachen – und das heißt zumeist auch armen und ungebildeten – Menschen früherer Zeiten nur wenig bekannt. Das hat letztlich hier und da in Theologenkreisen zu der irrigen Vorstellung geführt, nur die Angehörigen der geistlichen Stände seien zur Heiligkeit berufen. Die Predigerorden stellten sich von Anfang an gegen diesen Irrtum, und ihre Predigten, aber auch die Ausstattung ihrer Klosterkirchen zeugt davon, daß sie ihrer Zielgruppe einen sehr plastischen, sehr intensiven und sehr von Bildern aus der irdischen Welt ausgehenden Zugang zur geistigen Welt zu vermitteln suchten.

Ganz anders demgegenüber vielfach die Klosterkirchen kontemplativer Orden: Wer sechs Stunden am Tag die Psalmen betete oder Predigten der Kirchenväter hörte und oft sogar in der Arbeitszeit als Schreiber oder Illuminator mit geistigen Dingen befasst war, brauchte keine Bilder an der Wand – er trug bereits die Bilder der geistigen Welt in sich, und mit bunten Gemälden geschmückte Wände der Klosterkirchen hätten den Zisterzi­enser nur von diesem Reichtum der geistigen Bilder abgelenkt.

Solange die christliche Welt katholisch war, hat dieser Pluralismus anscheinend außer gelegentlichem Mönchsgezänk keine größeren Verwerfungen hervorgerufen. Ein Teil dieses gelebten Pluralismus ist auch heute noch in den Gottesdiensten bei den Gemein­den der Tradition zu beobachten. Da gibt es – wir gendern hier mal ganz nach unseren Vorurteilen – die Rosenkranzbeterin, die von Staffelgebet bis Ite Missa est die Perlen durch die Finger gleiten läßt; den Schott-Mitbeter, der unruhig wird, wenn er den Kontakt zum Gebet des Priester am Altar verliert; Sänger, die beim gregorianischen Ordinarium so voll aus sich herausgehen, Sopranistinnen, die man eher beim deutschen Kirchenlied zum Einzug oder zur Opferung hört – schon die „Participatio actuosa“ hat viele Seiten. Dazu kommen „stille Beter“, durchgängig kniend im Gebet versunken, die man überhaupt nicht hört – oder anderes, die bis auf die Wandlung vor sich hin sinnie­rend sitzen und denen kein Mensch ansieht, ob sie mit ihren Gedanken beim soeben gehörten Evangelium oder bei der nächsten Steuererklärung sind – auch die gehört zum Leben eines Christenmenschen irgendwie dazu.

In der guten alten Zeit vor dem Konzil gab es dann auch noch die leicht verdrossen drein­schauenden Männer, die von ihren Frauen mit sanfter Gewalt zum Kirchgang ge­schleppt worden waren und die sich nahe dem Eingang im Schatten unter der Empore sammelten, von wo sie zwischen Predigt und Wandlung gelegentlich zu einer Zigaretten­pause ins Freie entschlüpften. Selbst bei denen wollte der erfahrene Dorfpfarrer nicht ausschließen, daß sie gelegentlich von einem Strahl der Gnade getroffen würden – und manchmal legte er es in seiner Predigt sogar ausdrücklich darauf an.

Dieser spirituelle Pluralismus mit seinen guten und weniger guten Seiten war bereits zu Zeiten der liturgischen Bewegung gefährdet. Das häufig eng ausgelegte Wort von Pius X., die Gläubigen sollten nicht in der Messe beten, sondern „die Messe beten“, schien auf eine einseitige Bevorzugung des Typs Schott-Mitleser hinauszulaufen – und auf eine damit verbundene Geringschätzung der Rosenkranz-Beter. Zusammen mit den totali­tären Gemeinschaftsvorstellungen der 20er und 30er Jahre führte das schließlich in der mißglückten Liturgiereform Pauls VI. zur Propagierung einer Einheitsspiritualität mit überwiegend didaktischer Zielrichtung, die dann in weißgekalkten Kirchenräumen mit der Sakralität von Schalterhallen ihren ästhetischen Ausdruck fand. Wer in Bildern dachte und lebte, hatte fortan schlechte Karten. Dazu kamen dann noch erstmals in der Geschichte der Liturgien des lateinischen Westens und des slawischen Ostens „Rubriken für das Volk“ mit dem berüchtigten „wir stehen“, „wir sitzen“ „wir erwecken Reue“ und dem in militärischer Ordnung ablaufenden Gang zur Kommunionbank. Wie weit dabei auch Vorbilder oder Denkweisen aus dem kalvinistischen Protestantismus eine Rolle gespielt haben, wäre eines eigenen Nachdenkens wert.

Diese Vereinheitlichung und Uniformierung, die jede dem Kollektivideal nicht entspre­chende Spiritualität – die für uns definitionsgemäß eine starke persönliche Komponente hat – erschlägt, ist zweifellos eine der Hauptursachen des pastoralen Fehlschlags der Novus Ordo in den europäischen oder von europäischer Denkweise beeinflußten Welt­regionen. Diese Einheitsideologie – erschwerte ja nicht nur den als konkrete Menschen­wesen immer sehr unterschiedlichen Gläubigen dieser Kulturkreise genau das, was man ihnen doch eigentlich vermitteln wollte, nämlich die tätige Teilnahme. Sie führte auch zu einer historisch neuartigen und vermutlich für Menschen aller Kulturkreise schwer ver­ständlichen Einschränkung der rituellen Ausdrucksweisen der gottesdienstlichen Feiern.

Um anzudeuten, was damit gemeint ist: Bis zur Reform kannte selbst der auf dem Lande lebende Katholik drei recht verschieden anmutende Grundformen des Gottesdienstes, die den Ablauf des Kirchen­jah­res strukturierten und die Rangordnung der Feste sinn­fällig vor Augen führte: Werktags stille Messe mit einem Messdiener; Sonntags (deutsch oder lateinisch) gesungenes Amt mit mehreren Messdienern; zu hohen Feiertagen oder Bischofsbesuchen Levitenamt oder Pontifikalamt mit allem, was die Gemeinde an Mess­dienern, Fahnen und Blasmusik aufbieten konnte. Besondere Begängnisse wie Taufe, Ehe­schließung, Beerdigung usw. wurden oft im Rahmen von andachtsähnlichen Sonder­liturgien gefeiert, die ihnen einen unverwechselbaren Charakter gaben.

All das ist heute weitgehend eingeebnet und gleichgestaltet von der Papstmesse bis zur werktäglichen Eucharistiefeier. Theologisch ist einiges davon vielleicht begründbar, aber dem konkreten Umständlichkeiten verhafteten Bewußtsein des Normalmenschen, oder wenn man so sagen will der „Alltagsspiritualität“, wenig förderlich. Zusammen mit der theologisch unbegründbaren Vorstellung, es sei Aufgabe der kirchlichen Autorität, dieses Einheitsdenken im liturgischen Gleichschritt zu fördern und erforderlichenfalls mit ganz und gar unspiritueller und unpastoraler Härte durchzusetzen, ist es eine der Hauptur­sa­chen dafür, daß die Kirche der Gegenwart ihren spirituellen Pluralismus und ihre litur­gische und Vergangenheit nicht mehr versteht und nach Kräften abzustoßen bemüht ist. Ohne ein tiefgreifendes Umdenken in dieser Sache besteht wenig Hoffnung auf eine Befriedung der liturgischen Auseinandersetzungen. „One size fits all“ funktioniert selbst bei Arbeits­kleidung nur begrenzut.

Die der Tradition anhängenden Gläubigen haben hier durchaus auch selbst etwas zu lernen und zu leisten: Wie man in Nordamerika, womöglich aber auch anderswo außer­halb Europas, sehen kann gibt es ja doch an einigen Orten genug Gläubige, deren Spiri­tualit mit der Reformliturgie kompatibel ist und die dort in Gemeinden leben, die im großen ganzen solide katholisch sind. Dem sollte man man in Form und Ästhetik der Gottesdienste durchaus entgegenkommen - pauschale Forderungen nach „Abschaffung“ des Novus Ordo sind unangebracht und würde nur ein weiteres Segment spirituell „heimatvertriebene“ Gläubige hervorbringen. Wo Menschen sich von seiner Spiritualität – soweit sie tatsächlich katholisch ist – angesprochen fühlen, soll man dem auch Frei­raum geben. Als Option, und nicht zur Zwangsbeglückung für alle. Dann kann man behutsam daran gehen, die schlimmsten „theologischen Zeitbomben“ zu entschärfen, die Michael Davies in der Reformliturgie aufgefunden hat. Ihr Verschwinden würden wirk­lich katholische Gemeindemitglieder kaum bemerken, sondern nur die Laien, Kirchen­funk­tionäre, Geistlichen und Theologen, die sie als anmaßende Vertreter des „Neuen Menschen“ bisher schon dazu genutzt haben, den Weg für eine neue Kirche nach ihren säkularen Ideolo­gien zu schaffen.

Bilder und Bezugsmöglichkeiten:
Emaus: TheModernSaints.com
Franziskus:Erzbistum-Köln
Mater Dolorosa: Angebot auf Etsy

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