Warum Viganós Konzilskritik ernst zu nehmen ist
- Details
- 02. Juli 2020
Von Peter Kwasniewski
(Englisches Original auf OnePeterFive)
Ist der aktuelle „Angriff“ auf Vatikan II ein „kritischer Moment“ für Traditionalisten? Wenden wir uns gegen ein legitimes und begrüßenswertes Konzil, statt unseren Zorn zu Recht gegen eine unfähige Leitung zu richten, die es anschließend verraten hat?
So haben es die Konservativen lange Zeit gehalten: Eine „Hermeneutik der Kontinuität“, verbunden mit einer heftigen Kritik der Gaunereien von Bischöfen und Klerus. Wie wenig dieser Ansatz zu überzeugen vermag kann man unter anderem daran ersehen, wie minimal die Erfolge der Konservativen waren, die verhängnisvollen „Reformen“, die Moden, die Gewohnheiten und die Institutionen zurückzudrängen, die im Gefolge und im Namen des letzten Konzils mit päpstlicher Zustimmung oder Duldung durchgesetzt worden waren. Das erinnert an eine Parallele im weltlichen Bereich, die öde Wüste des amerikanischen politischen Konservatismus, in der sich jede noch verbliebene Übereinstimmung von menschlichen Gesetzen und Gerichtsentscheidungen mit dem Naturrecht vor unseren Augen verflüchtigt.
Was Erzbischof Viganó letzthin mit einer für heutige Würdenträger ungewöhnlichen Offenheit gesagt hat (Beispiele hier, hier und hier ist lediglich eine Wiederholung der seit langem geübten Kritik seitens traditioneller Katholiken von Michael Davies‘ Pope Johns Council und Romano Amerios Iota Unum bis zu Roberto de Matteis The Second Vatican Council: An Unwritten Story und Henry Sires Phoenix from the Ashes. Wir haben ein halbes Jahrhundert lang zugesehen, wie Bischöfe, Bischofskonferenzen, Kardinäle und Päpste Stück für Stück eine „neues Paradigma“ konstruiert haben – einen „neuen“ katholischen Glauben, der im besten Fall nur noch teilweise mit dem katholischen Glauben übereinstimmt, wie wir ihn von den Vätern und Lehrern der Kirche, den frühen Konzilien und hunderten traditioneller Katechismen und nicht zuletzt aus den Riten der alten lateinischen Liturgie kennen, die abgeschafft und durch völlig andere ersetzt wurden. Im schlechtesten Fall steht dieser „neue“ Glaube sogar im direkten Widerspruch dazu.
Zwischen Alt und Neu klafft hier ein derartiger Abgrund, daß wir nicht umhin können, uns die Frage zu stellen, welche Rolle das Zweite Vatikanische Ökumenische Konzil dabei gespielt hat, daß sich der Modernismus von seinen Ursprüngen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart so entfalten konnte. Wenn man erst einmal die einzelnen Punkte miteinander verbindet, zeigt sich eine gerade Entwicklungslinie von Loisy, Tyrell und Hügel zu Küng, Teilhard und (dem jungen) Ratzinger sowie Kasper, Bergoglio und Tagle. Das soll nicht heißen, daß es zwischen diesen Männern keine interessanten und bedeutenden Unterschiede gäbe, aber es bedeutet, daß sie einige Prinzipien gemeinsam haben, die von sämtlichen großen Bekennern und Theologen von Augustinus und Chrysostomus bis Thomas v. Aquin und Bellarmin als zweifelhaft, gefährlich oder häretisch gebrandmarkt worden wären.
Wir müssen ein für allemal den naiven Denkansatz aufgeben, daß es beim II. Vatikanum allein auf die verabschiedeten und promulgierten Texte ankäme. Nein, darin sind sich Progressisten und Traditionalisten zu Recht einig, daß das Ereignis als solches ebenso viel bedeutet wie seine Texte – man sehe dazu das einzigartige Buch von Roberto de Mattei. Die Unbestimmtheit der Ziele, um deretwegen es einberufen wurde; die manipulative Weise, in der es durchgeführte wurde, und seine konsequent „liberale“ Umsetzung, die im Weltepiskopat kaum den leisesten Widerspruch auslöste – all das hatte seinen Einfluß auf die Interpretation und Bedeutung der Konzilstexte. Diese Texte selbst weisen neue Genres und gefährliche Zweideitigkeiten auf, ganz zu schweigen von der Lehre, wonach Moslems und Christen den gleichen Gott verehrten, die Bischof Athanasius Schneider in Christus Vincit (Anm.1) vernichtend kritisiert hat.
Es ist erstaunlich, daß es auch heute noch Verteidiger der Konzilsdokumente gibt, wo es inzwischen doch klar zu Tage liegt, daß sie ausschließlich mit dem Ziel einer umfassenden Modernisierung und Säkularisierung der Kirche genutzt worden sind. Selbst wenn sie vom Inhalt her nicht zu beanstanden wären, so haben doch ihre Weitschweifigkeit, ihre Komplexität und die Verquickung offenkundiger Wahrheiten mit haarsträubenden Gedankengebilden eine perfekte Vorlage für die Revolution abgegeben. Diese Revolution ist nun in diese Texte eingeschmolzen und mit ihnen verschweißt wie die Metallteile in einem Schmelzofen.
Tatsächlich ist das bloße Zitieren des zweiten Vatikanums inzwischen zu einem Signal dafür geworden, daß jemand sich voll zu all dem bekennt, das von den Päpsten – ja, von den Päpsten – in seinem Namen gemacht worden ist. An erster Linie natürlich die Zerstörung der Liturgie - aber die Beispiele ließen sich bis zum Abwinken vermehren: Man denke an solche verhängnisvollen Momente wie die interreligiösen Versammlungen von Assisi, zu deren Begründung Johannes Paul II sich ausschließlich einer Kette von Zitaten aus dem II. Vatikanum bediente. Das Pontifikat von Franziskus hat hier nur noch einmal zusätzlich Gas gegeben.
Immer wird das II. Vatikanum angeführt, wo es darum geht, Abweichungen oder Distanzierungen vom historischen und dogmatisierten Glauben zu erklären oder zu begründen. Ist das alles nur reiner Zufall – eine Ansammlung bemerkenswert unglücklicher Interpretationen und schräger Einschätzungen, die sich durch eine aufrichtige Lektüre der Texte auflösen ließe, so wie die die Regenwolken, wenn sie von der Sonne vertrieben werden?
Gibt es in den Dokumenten denn nicht auch gute Aussagen?
Ich habe die Dokumente des Konzils studiert und darüber Vorlesungen gehalten – bei manchen mehrfach. Ich kenne sie sehr gut. Ich bin ein bekennender Anhänger der „Great Books“, der kanonischen Werke, und habe meine Lehre stets dementsprechend ausgerichtet. Meine Theologie-Kurse begannen typischerweise mit der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern, wandten sich dann den Scholastikern, insbesondere dem hl. Thomas, zu, und endeten mit Texten des Lehramts: päpstlichen Enzykliken und Dokumenten der Konzilien.
Und immer wieder fühlte ich, wie mir der Mut sank, wenn wir zu den Dokumenten des II. Vatikanums kamen, etwa Lumen Gentium, Sacrosanctum Concilium, Dignitatis Humanae, Unitatis Redintegratio, Nostra Aetate oder Gaudium et Spes.
Natürlich – natürlich! - enthalten sie vieles, das schön und rechtgläubig ist. Sie hätten auch nie die erforderliche Stimmenmehrheit bekommen, wenn sie der katholischen Lehre offen widersprochen hätten.
Aber sie sind auch weitschweifige, unhandliche und widersprüchliche Erzeugnisse von Komitees, in denen viele Dinge unnötig verkompliziert sind und denen die kristalline Klarheit fehlt, um die sich ein Konzil mit aller Kraft bemühen sollte. Man muß sich nur einmal die Dokumente von Trient oder der ersten sieben ökumenischen Konzilien anschauen, um glänzende Beispiele dieses höchst präzisen Stils zu erleben, die der Irrlehre an jedem möglichen Punkt einen Riegel vorschieben, soweit die Konzilsväter überhaupt in der Lage waren, dort ein Einfallstor wahrzunehmen.(Anm. 2) Auf der anderen Seite gibt es Sätze des II. Vatikanums, und zwar nicht wenige, bei denen man erst einmal einhält und dann fragt: Meinen die das Ernst? Sehe ich wirklich, was da vor meinen Augen steht? Was für eine verdrehte / problematische / irrtumsnahe oder irrige Aussage ist das denn? (Anm. 3)
Wie viele Konservative war ich immer davon ausgegangen, daß wir „das, was gut ist vom Konzil annehmen und das Übrige auf sich bewenden lassen“ sollten. Die Problematik dieses Ansatzes hat Papst Leo XIII in seiner Enzyklika Satis Cognitum so beschrieben:
Die Arianer, die Montanisten, die Novatianer, die Quartodecimaner, die Eytychianer haben gewiss nicht die gesamte katholische Lehre verworfen, sie haben nur einen bestimmten Teil davon abgelehnt. Doch wer wüßte nicht, daß sie erklärte Häretiker waren und vom Busen der Kirche verbannt wurden? Gleicherweise wurden auch alle Urheber häretischer Grundsätze verurteilt, die ihnen in den späteren Zeiten folgten. „Es kann nichts gefährlicheres geben als solche Irrlehrer, die fast die gesamte Lehre annehmen und nur mit einem Wort, wie mit einem Tropfen Gift, den wirklichen und schlichten Glauben infizieren, den unser Herr gelehrt und den die apostolische Tradition überliefert hat. (anon. in Tract. de Fide Orthodoxa contra Arianos).
Anders ausgedrückt: Es ist die Mischung, das Durcheinander von vorzüglichen, guten, neutralen und schlechten, von allgemeinen, mehrdeutigen, problematischen und irrigen Aussagen, wie sie sämtlich in enormem Umfang vertreten sind, die auf einzigartige Weise die Notwendigkeit begründen, das II. Vatikanum aufzugeben. (Anm. 4)
Hat es nicht immer nach Konzilien Schwierigkeiten gegeben?
Ja, zweifellos. Nach Konzilien der Kirche gab es mehr oder weniger heftige Auseinandersetzungen. Aber diese Probleme entstanden normalerweise trotz und nicht wegen des Charakters und des Inhalts ihrer Dokumente. Der hl. Athanasius konnte sich immer wieder auf Nizäa wie auf ein Feldzeichen berufen, weil dessen Lehre so prägnant und solide war. Die Päpste nach Trient konnten sich wieder und wieder auf dessen Canones und Dekrete berufen, weil deren Lehre so prägnant und solide war. Zwar hat Trient im Laufe der Jahre, in denen seine Sitzungen stattfanden (1545-1563) eine große Zahl an Dokumenten hervorgebracht , aber jedes davon ist ein Muster an Klarheit und enthält kein Wort zuviel.
Außerdem haben die Dokumente des II. Vatikanums kläglich das Ziel verfehlt, das ihm Papst Johannes XXIII. gesetzt hatte. Er hatte 1962 gesagt, es gehe ihm um eine zugänglichere Beschreibung des Glaubens für den „Modernen Menschen“®. Schon 1965 war es schmerzhaft deutlich geworden, daß man diese 16 Dokumente niemals in einem Buch zusammenfassen könnte, das man jedem Laien oder sonstwie Wissbegierigen in die Hand drücken würde. Man könnte sagen, daß das Konzil zwischen zwei Stühle geraten ist: Es produzierte weder einen anschlussfähigen Einstieg für die moderne Welt noch eine verläßliche Arbeitsgrundlage, auf die sich Seelsorger und Theologen würden stützen können. Was hat es stattdessen hervorgebracht? Riesige Berge Papier, eine Menge gewundene Texte und ein augenzwinkerndes: Leute, passt euch der modernen Welt an! (Und wenn nicht, bekommt Ihr, um einen Satz von Hobbes auszuborgen, „Probleme mit der unwiderstehlichen Macht des sterblichen Gottes“, wie Erzbischof Lefebvre schnell herausfand.)
Aus diesen Gründen ist das letzte Konzil einfach nicht zu retten. Wenn das Projekt der Modernisierung zu einem massiven Verlust der katholischen Identität, selbst der grundlegenden Kenntnisse in Lehre und Moral, geführt hat, dann hilft nur eines: Ein Erweis der letzten Ehre für das große Symbol dieses Projektes – und dann beerdigen. Wie Martin Mosebach gesagt hat, bedeutet wahre „Reform“ immer auch eine „Rückkehr zur Form“, also zu strengerer Disziplin, klarerer Lehre und ehrfürchtigerem Gottesdienst. Das kann nicht im Sinne des Gegenteils umgedeutet werden.
Gibt es denn irgendetwas an der Substanz des Glaubens oder irgend einen unbestreitbarem Gewinn, das wir verlieren müßten, wenn wir uns vom letzten Konzil verabschiedeten und nie wieder davon sprächen? Die katholische Tradition enthält doch bereits unermeßliche (und gerade heute größtenteils ungenutzte) Ressourcen, um sich mit all den quälenden Fragen zu beschäftigen, die sich uns in der Welt von Heute stellen. Inzwischen, da wir schon fast ein Viertel auf dem Weg in ein ganz anderes Jahrhundert zurückgelegt haben, stehen wir in einer ganz anderen Situation und benötigen ganz andere Werkzeuge als in den 1960er Jahren.
Was also kann in der Zukunft getan werden?
Seit dem Brief von Erzbischof Viganó vom 9. Juni und seinen anschließenden Äußerungen, wird darüber diskutiert, was es denn bedeutet, das II. Vatikanische Konzil zu „annullieren“.
Ich sehe für einen künftigen Papst drei Möglichkeiten:
- Er könnte einen neuen Syllabus Errorum herausgeben, wie Bischof Schneider das schon 2010 vorgeschlagen hat, in dem die Irrtümer dargestellt und verurteilt werden, die gemeinhin mit dem II. Vatikanum begründet werden, ohne diese ausdrücklich dem Konzil zuzuschreiben: „Wenn jemand XY behauptet, so sei er Anathema“. Damit bliebe offen, in welchem Ausmaß die Konzilsdokumente selbst diese Irrtümer enthalten, doch die Tür zu vielen populären „Lesarten“ des Konzils würde geschlossen.
- Er könnte erklären, daß wir im Rückblick auf das vergangene halbe Jahrhundert erkennen, daß die Konzilsdokumente wegen ihrer Probleme und Mehrdeutigkeiten im Leben der Kirche mehr Schaden als Gutes bewirkt haben und künftig in theologischen Diskussionen nicht mehr als autoritativ herangezogen werden können. Das Konzil selbst würde als ein historisches Ereignis behandelt, das keine aktuelle Bedeutung mehr hat. Auch bei diesem Vorgehen würde also nicht behauptet, daß die Dokumente irrig wären. Aber es würde die Erkenntnis zum Ausdruck bringen, daß das Konzil „mehr Mühe als Ertrag“ gebracht habe.
- Er könnte einzelne Dokumente oder Teile davon ausdrücklich zurückweisen, so wie Teile des Konzils von Konstanz niemals anerkannt bzw. abgelehnt worden sind.
Die zweite und die dritte Variante finden ihre Begründung darin, daß das Konzil sich einzigartig unter allen ökumenischen Konzilien der Kirchengeschichte als vom Wesen und vom Zweck her „pastoral“ begriffen hat, wie sowohl Papst Johannes XIII. als auch Paul VI. dargelegt haben. Das macht es verhältnismäßig einfach, es abzutun. Auf den Einwand, daß es unvermeidlicher Weise auch Gegenstände des Glaubens und der Moral behandelt habe, würde ich antworten, daß die Bischöfe niemals irgend etwas definiert oder verurteilt hätten. Selbst die „Dogmatischen Konstitutionen“ definieren keine Glaubenssätze. Es war ein auf eigentümliche Weise didaktisches und katechetisches Konzil, das so gut wie nichts festgelegt, aber vieles unsicher gemacht hat.
Wann und wie auch immer ein zukünftiger Papst oder ein künftiges Konzil darangeht, diese katastrophale Situation aufzuräumen – unsere Pflicht als Katholiken bleibt die, die es schon immer war: Am Glauben unserer Väter in seinem normativen und zuverlässigen Ausdruck festzuhalten, nämlich an der lex orandi der überlieferten Liturgien des Ostens und des Westens, an der lex credendi der anerkannten Glaubensbekenntnisse und des beständigen allgemeinen Lehramts, und an der lex vivendi, die uns die über die Jahrhunderte kanonisierten Heiligen vorgelebt haben, bevor die Epoche der Verwirrungen ausgebrochen ist. Das ist genug, und mehr als genug.
*
Anmerkungen:
- Siehe Zusammenstellung hier
- Es ist bemerkenswert, daß Johannes XXIII. Vorbereitungskommissionen eingesetzt hatte, die kurze, dichte und und klare Dokumente für die Arbeit des kommenden Konzils erstellten. Doch dann ließ er es zu, daß die liberale oder „rheinische“ Fraktion der Konzilsväter diese Entwürfe verwarf und durch neue ersetzte. Einzige Ausnahme war Bugninis Projekt Sacrosanctum Concilium, das ohne große Umstände akzeptiert wurde.
- Das kommt nicht nur von schlechten Übersetzungen. Die ersten Übersetzungen waren im allgemeinen gut, aber spätere Versionen haben das verschlechtert.
- Wie Kardinal Walter Kasper in einem Artikel im Osservatore Romano (12. 4. 2013) einräumte: An vielen Stellen mußten die Konzilsväter Kompromißformeln finden, in denen oft die Mehrheitsposition direkt neben der Minderheitsmeinung stand, um sie einzuhegen. Daher enthalten die konziliaren Texte schon von sich aus hohes Konfliktpotential und öffnen die Tür zu einer selektiven Aufnahme in der einen oder anderen Richtung.