Zur Liturgie an Allerseelen
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- 02. November 2019
Die Liturgie des Allersselentages weist zwei bemerkenswerte Besonderheiten auf. Allersselen ist – nach dem Weihnachtsfest – der einzige Festtag, an dem jeder Priester ohne besondere Erlaubnis drei heilige Messen zelebrieren darf. Dazu später. Und der Intoitus dieser Messen und dann noch einmal Graduale und Communio zitieren zwei höchst bekannte Verse aus einer Quelle, die der zu den unbekanntesten und – so kann man schon sagen – auch obskursten Texten der Heiligen Schrift nach der Vulgata gehört. Nämlich die Verse: Requiem aeternam dona eis, Domine, et Lux perpetua luceat eis. Als Quelle gibt das Missale der überlieferten Liturgie (auch die Version 1962) das 4. Buch Esdras, 2. Kapitel, Vers 34 u. 35 an.
Die meisten Bibelversionen, darunter auch die Septuaginta, enthalten das 4. Buch Esdras überhaupt nicht, und die Vulgata bringt es quasi mit spitzen Fingern nicht etwa im Anschluß an Esdras 1 und 2 bei den Propheten des Tanach, sondern ganz hinten in einem Anhang. Das hat seinen Grund: Die Bücher Esdras 3-6 gehören zu den apokryphen Schriften, die sich zwar selbst dem Alten Testament zuordnen, aber eindeutig erst in früher nachchristlicher Zeit entstanden sind. Zu spät für die Septuaginta, deren jüngste Texte aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert stammen. Esdras 3-6 erfreuten sich in der alten Kirche beträchtlicher Beliebtheit. Das Konzil von Trient hat sie nicht verworfen, aber auch nicht in seinen Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen und sie damit in den ziemlich umfangreichen Limbo heiliger Schriften verwiesen.
Buch 4 hat unter den Esdras-Apokryphen insofern eine Sonderstellung, als es ein besonders eindrückliches Beispiel für die enge Verflechtung des frühen Christentums mit seinem jüdischen Vorgänger darstellt. Das gilt schon einmal rein äußerlich: Der Hauptteil des Buches, der um das Jahr 100 entstanden ist, in den Kapiteln 3 – 14 ist eindeutig jüdisch – er zeichnet ein apokalyptisch geprägtes Stimmungsbild einer jüdischen Gemeinde nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus im Jahr 70. Diese 11 Kapitel sind „eingerahmt“ durch jeweils zwei Kapitel am Anfang und am Schluß, die später (im 2. oder 3. Jahrhundert) von einem christlichen Autor dazu gestellt wurden und die Jerusalemer Apokalypse in einen christlichen Bezugsrahmen einordnen: So geht Inkulturation.
Dieses Framing demonstriert auf der einen Seite eine tiefe innere Verbindung zwischen Juden- und Christentum, zeugt auf der anderen Seite aber auch von dem ebenso tiefgehenden Bruch zwischen beiden. Das erste Rahmenkapitel enthält im Stile des Propheten Jeremias eine ausführliche Klagerede des Herrn über die vielen Wohltaten und Wunder, die er an seinem auserwählten Volk gewirkt hat – und der Undankbarkeiten und Bundesbrüche, deren es sich schuldig gemacht hat. Und es endet mit einem harten Urteil: Der Herr (JHWE) verstößt Israel aus seinem Bund und bittet den Vater, ihr Volk zu zerstreuen und von der Erde zu vertilgen. Die blutigen Verfolgungen der frühen Christen durch die Tempelpartei (Paulus!) waren noch nicht vergessen, die Lehre „Liebet Eure Feinde“ noch nicht voll angekommen – insoweit steht der unbekannte Verfasser noch mit beiden Füßen im Alten Testament. Und war nicht das Schicksal Jerusalems Zeugnis dafür, daß es so bereits voll eingetroffen war?
Das zweite Rahmenkapitel hat traditionell die Überschrift „Der Herr erwählt sich ein neues Volk“ und beschreibt in feierlichen Worten den „neuen Bund“, den er mit diesem Volk aus allen Ländern und Nationen der Erde schließen will. Und dazu gehört auch in den erwähnten Versen 34 und 35 die Ankündigung:
Expectate Pastorem vestrum, requiem aeternitatis dabit vobis, quoniam in proximo est ille, qui in fine saeculi adveniet. Parati estote ad praemia regni, quia lux perpetua lucebit vobis per aeternitatem temporis.
Erwartet euren Hirten, er wird Euch die Ruhe der Ewigkeit schenken, denn der, der zum Ende der Zeit kommen möge, ist nahe. Seid bereit für den Lohn des Königreichs, denn das immerwährende Licht wird euch leuchten für die Zeit der Ewigkeit.
Das „Zitat“ der Liturgie ist also weniger ein Zitat als eine formelhafte Verdichtung des Ausgangstextes, mit der zudem eine leichte Bedeutungsverschiebung einhergeht: Aus der Aufforderung an die Lebenden wird eine Bitte für die Verstorbenen. Ähnliche Transformationen lassen sich bei vielen liturgischen Zitaten aus dem alten Testament feststellen.
Der oben zuerst genannte Punkt der drei Messen ist schneller erklärt. Nach Ildefons Schusters Liber Sacramentorum geht diese Erlaubnis auf Edikte der Päpste Benedikt des XIV. und XV. zurück, die damit eine Art Ablösung unerfüllbar gewordener Meßsstiftungen bewirken wollten:
Die frommen Vorfahren hatten einst Kirchen, Kapiteln und Altären reiche Stiftungen gemacht, damit nach ihrem Tode das hl. Opfer für sie dargebracht werde. Durch die Revolution und die Einziehung der Kirchengüter wurden jedoch in sehr vielen Fällen die Vermächtnisse zerstreut, so daß der Papst mit Rücksicht auf den verarmten Klerus ganze Kapitel, , religiöse Genossenschaften und Priester von der Erfüllung der alten Meßstiftungen befreien mußte, Um jedoch einen Ersatz zu leisten, erlaubte Papst Bendikt XV. (…) jedem Priester, an Allerseelen das hl. Meßopfer dreimal zu feiern.
Die Päpste knüpften damit für diesen einen Tag an einen in den früheren Jahrhunderten üblich gewesenen Brauch an, der im Mittelalter zu vielen Mißständen geführt hatte und schließlich seit Beginn der Neuzeit erfolgreich zurückgedrängt worden war.