„Lateinischer“ Ritus ohne Latein?
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- 09. Juli 2022
New Liturgical Movement hat ein bislang größerer öffentlicher Beachtung entgangenes Video aufgespürt, das die Aufzeichnung eines „glagolitischen“ Pontifikalamtes im tschechichen Velegrad aus dem Jahr 2016 zeigt. Das glagolitische Missale, letzte Auflage 1927, ist ein Messbuch des klassischen römischen Ritus der auf den hl. Papst Gregor zurückgehenden Tradition – allerdings nicht in lateinischer Sprache, sondern in einem gemeinhin als „(alt)kirchenslavisch“ bezeichneten Idiom. Zelebrant in Velegrad war Weihbischof Athanasius Schneider. (Mehr zur glagolitischen Sondertradition enthält ein Beitrag auf New Liturgical Movement von 2011).
Bischof Schneider, mehrsprachig als Kind einer rußlanddeutschen Familie im damals sowjetischen Kasachstan aufgewachsen, bringt ideale Voraussetzungen für ein derartiges Pontifikalamt mit: Er ist vertraut mit der überlieferten Liturgie wie nur wenige andere „römische“ Bischöfe, und für die Aussprache des Kirchenslavischen ist er nahezu Muttersprachler.
Nach dem oben verlinkten Video würde man ohne Ton praktisch keinen Unterschied zwischen einem normalen Pontifikalamt und dessen glagolitischer Version erkennen können. Die gesungenen Teile zumindest der Offizianten sind reine Gregorianik – beim Gesang von Schola und Gemeinde sind wir nicht ganz sicher, aber alles klingt „westlich“, ohne Anklang an die doch deutlich andersartige musikalische Tradition auch der mit Rom verbundenen Rituskirchen des Ostens. Die Zelebration von Velegrad unterstreicht also zumindest für die Gegenwart: Der manchmal so genannte „Glagolitische Ritus“ ist in keiner Weise ein eigener Ritus, noch nicht einmal ein besonderer „Usus“ des römischen Ritus – sondern die Feier des „lateinischen“ Ritus in einer anderen Sprache – nämlich der kirchenslavischen.
Diese Sonderform hat ihren Ursprüng in der Lage der „glagolitischen“ Gemeinden östlich der Adria an einer Schnittstelle zwischen dem lateinischen Westen und dem griechisch/slavischen Osten: Seit unvordenklichen Zeiten feierten die mit dem Papst verbundenen Katholiken dieser Region die Liturgie (auch das Breviergebet) nach den allgemeinen Riten der Kirche von Rom – aber in einer mehr oder weniger dem aktuellen Sprachstand angenäherten Version des in der Orthodoxie ausgebildeten Kirchenslavischen. Unter Papst Urban VIII. erfolgte dann eine offizielle Anerkennung dieser Praxis durch die Herausgabe von Büchern, die in den Texten und Rubriken mit den allgemeinrömischen übereinstimmten und sich nur noch in der Sprache unterschieden.
Die Bevölkerungsverschiebungen und die politischen Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg haben unseres Wissens die glagolitische Tradition im Leben der Kirche und ihrer Gemeinden des nord-ost-adriatischen Raumes ausgelöscht. Gelegentliche Feiern nach dem glagolitischen Missale dienen wohl weniger dem Ziel einer Wiederbelebung als der Erinnerung an eine besondere – immerhin über tausendjährige – Epoche in der Inkulturationsgeschichte der römischen Liturgie.
In diesem Zusammen gewinnt diese Erinnerung in der Gegenwart wieder eine gewisse Aktualität: Ritus in der Tradition des hl. Papstes Gregor und lateinische Liturgiesprache sind nicht wesensmäßig und untrennbar aneinander gekoppelt. Es gibt mit dem glagolitischen Missale mindestens ein historisches Gegenbeispiel, und die gegenwärtige Praxis des „Anglican Use“ deutet ebenfalls in diese Richtung.