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Die Antiphonen der Erwartung

Bild: Screenshot des Digitalisats der franz. NationalbibliothekDie O-Antiphonen, die das Hymnarium in diesem Jahr an den Tagen vor Weihnachten präsentiert (und deren Präsentation wir in der Randspalte begleiten), gehören formal wie inhaltlich zu den großen Kostbarkeiten der lateinischen Liturgie. In ihrem heutigen Bestand richten sie sich alle an den erwarteten göttlichen Erlöser selbst, der unter verschiedenen Bezeichnungen und Aspekten angesprochen wird. Diese O-Antiphonen haben seit über 1000 Jahren ihren Platz in der Vesper der sieben Tage vor Weihnachten. In dem durchaus anerkennenswerten Versuch, diesen Schatz auch den Gläubigen zugänglich zu machen, die nicht am Stundengebet teilnehmen, haben die Liturgiereformer von 1969 die Antiphonen auch als „Ruf vor dem Evangelium“ in den Novus Ordo Missae übernommen. Dabei haben sie die Texte jedoch teilweise verstümmelt und im übrigen nicht bedacht, daß ihre „Reformen“ dazu führen könnten, die Bereitschaft zur täglichen Teilnahme an der Meßfeier nicht zu erhöhen, sondern enorm zu verringern.

Neben den sieben quasi kanonischen O-Antiphonen waren zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten alternative oder zusätzliche Versionen in Gebrauch – insgesamt sind derzeit 23 davon bekannt. René Strasser hat für das Hymnarium eine Reihe von ihnen zusammengetragen und übersetzt. Diese – zumindest die dort veröffentlichten – sind allerdings weder formal noch inhaltlich mit den Originalen aus der Liturgie des lateinischen Offiziums vergleichbar. Anders als diese richten sie sich in der Regel nicht an den als Messias erwarteten Erlöser und Weltenherrscher selbst, sondern an die Gottesmutter, den Erzengel Gabriel oder andere Instanzen der Heilsgeschichte, denen aber keine göttliche Stellung zukommt. In ihrem theologischen Gehalt bleiben sie weit hinter den Originalen zurück.

Kennzeichnend für diese Originale ist, daß sie in ihrem Wortlaut unverkennbar auf allgemeine Denkfiguren oder exakt identifizierbare Passagen aus dem Alten Testament zurückgreifen, diese Passagen aber aus der Perspektive des um seine künftige Erlösung flehenden Volkes Israel herauslösen und unter dem Blickwinkel des vollzogenen Erlösungswerkes neu interpretieren. Gleichzeitig wird die sehr stark auf irdische Verhältnisse gerichtete Erlösungshoffnung Israels ins Metaphysische gewendet: Nicht mehr die von babylonischer Versklavung und römischer Fremdherrschaft unterdrückten Juden der Zeit vor der Ankunft des Herrn, sondern das bereits befreite neue Volk Israel, das sich der nur durch eigenes, persönliches Verschulden fortdauernden Knechtschaft in der Beherrschung durch die Sünde bewußt geworden ist, erhebt in den O-Antiphonen seine Stimme. Ansatzpunkte für einen Vergleich dieser Perspektiven, der hier zunächst nicht angestellt werden kann, finden sich in dem erfreulicherweise recht ordentlichen Wikipedia-Artikel zu den O-Antiphonen. 

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