Buchvorstellung:
P. Sven Conrad: Kult und Form
14. März 2025

Umschlaggestaltung der vorgestellten Veröffentlichung
Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck haben, daß die meisten Besucher von Summorum-Pontificum nicht zur Zielgruppe der hier vorzustellenden Neuerscheinung gehören: 260 Seiten mit über 700 (teilweise nur lateinisch gebotenen) Fußnoten – das sieht für manchen geradezu bedrohlich nach Wissenschaft aus. Und wird diese Befürchtung nicht durch einen Satz aus dem Vorwort des Autors P. Sven Conrad FSSP bestätigt, in der er mitteilt, „der allgemeine akademischen Rat der Priesterbruderschaft hat mir dann den Auftrag gegeben, eine (...) Formenlehre im Sinne einer theologischen Hermeneutik der traditionellen Meßform zu verfassen, die man auch als Handbuch gebrauchen könne“. Dementsprechend sei es sein Anliegen, „den Usus antiquior als im Einklang mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil stehend zu präsentieren und nicht im Widerspruch dazu“.
Für den regelmäßigen Teilnehmer an der Sonntagsmesse in der überlieferten Liturgie und gelegentlichen Besucher von Summorum-Pontificum – gerne auch als rückwärtsgewandten Indietristen bezeichnet – stellt eine solche Zielbeschreibung eine schwer überwindbare Eingangshürde dar: Müssen das Zweite Vatikanum bzw. die sich darauf berufende Liturgiereform nicht eher ihre Vereinbarkeit mit der zwei Jahrtausende zurückreichenden liturgischen Tradition der Kirche nachweisen? Wird dieser Nachweis nicht dadurch enorm erschwert, daß die Machthaber des gegenwärtigen Pontifikats nicht nur mit „Traditionis Custodes“ alles daran setzen, diese Vereinbarkeit in Theologie und Gesetzgebung zu verneinen? Kann es so gelingen, wie ebenfalls im Vorwort als Absicht formuliert, „Brücken (zu) bauen und so der kirchlichen communio (zu) dienen“?
Auf diese Frage wird später noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein. Doch lassen wir uns durch die beschriebene Eingangshürde nicht abschrecken und riskieren einen zweiten Blick. Einen guten Ausgangspunkt dafür bietet die ebenfalls im Vorwort angesprochene Erinnerung an Martin Mosebachs unter dem Titel „Häresie der Formlosigkeit“ erschienene literarische Kritik der Liturgiereform und ihrer Folgen.
„Formlosigkeit“ in vielerlei Hinsicht erscheint ja den traditionstreuen Katholiken als das hervorstechende Kennzeichen der Reformliturgie. Wie selbstverständlich gehen sie davon aus, daß der Kultus, also der dem Schöpfer und Erhalter allen Lebens geschuldete Gottesdienst, Formen bedarf, die nicht ins Belieben zufälliger Gruppierungen oder deren mehr oder weniger erleuchteter Eingebungen gestellt sind, sondern einer dem Gegenstand angemessenen Ordnung bedürfen. Diese oft geradezu naiv akzeptierte Selbstverständlichkeit ist der Grund dafür, daß so viele jüngere Menschen, die die überlieferte Liturgie gar nicht kennen und dementsprechend auch keine nostalgische Bindung an sie entwickeln konnten, bei der ersten Begegnung mit der traditionellen Form erkennen: So etwas hat mir bisher gefehlt.
Diese Feststellung erfordert eine zweifache Qualifizierung, die hier freilich nur ansatzweise erfolgen kann:
Zum einen: Die Erfahrung, daß der gottesdienstliche Kult einer geordneten Form bedarf, wirkt sich umso stärker aus, je mehr die bisherige Gottesdienst-Erfahrung von Formlosigkeit und Unordnung geprägt ist. In vielen – soweit unsereins sehen kann, in den meisten – mitteleuropäischen Gemeinden, erscheint Formlosigkeit als das vorherrschende oder gar einzige „Formprinzip“ des Gottesdienstes – darin spiegelt sich der allgegenwärtige Relativismus in Theologie und Lehre wider. In Nordamerika scheinen dieser Relativismus und diese postmoderne Beliebigkeit weniger dominant zu sein. Dort gibt es in größerem Umfang Priester und Gemeinden, die bemüht sind, an den überlieferten Inhalten von Glaube und Lehre festzuhalten und die aus diesen Inhalten die Kraft schöpfen, auch bei der Feier der Reformliturgie würdige oder zumindest nicht-kontraproduktive Formen zu wahren.
Zum anderen: Wie oben schon durch die Verwendung des Wortes „naiv“ angedeutet, ist das Empfinden dafür, daß der Gottesdienst einer geordneten und würdigen, ja in vielem geradezu strengen, Form bedarf, bei den meisten Mitfeiernden der „Alten Messe“ nicht Ergebnis umfassender liturgischer Sachkenntnis, sondern spontan: Dem unverbildeten Glaubensbewußtsein erscheint es schlichtweg selbstverständlich, daß der Diakon in einer kleinen Prozession gemessenen Schrittes zur Verlesung des Evangeliums schreitet – und nicht zu Zirkusmusik und auf Rollschuhen, wie vor einigen Jahren bei dem berüchtigten Hochamt von Aparecida, dessen Videoaufzeichnungen inzwischen fast vollständig aus dem Internet weggesäubert worden sind. (Reste davon haben wir in einer nicht ganz fairen Gegenüberstellung von Orthodoxer und Katholischer Liturgie auf Youtube gefunden; ab 5:34). Und wenn der HERR bei der Wandlung wirklich und leibhaftig anwesend ist, fällt der „naive“ Gläubige wie selbstverständlich auf die Knie, und es bedarf schon eines an einer Jesuitenhochschule erworbenen großen Haereticums, um in diesem Moment stehen bleiben und dem Erschaffer des Universums zusammen mit Frau Stetter-Karp „auf Augenhöhe“ begegnen zu wollen.
In diesem Appell an die „Naivität“ liegt die große Stärke der Liturgie der traditionellen Riten, nicht nur des lateinischen. Aber genau hier liegen auch Schwachstellen für das Glaubensbewußtsein der Anhänger der liturgischen Tradition als Individuen wie auch für die gesamte traditionalistische Bewegung. Da wäre etwa die Versuchung zu Formalismus und Rubrizismus, die Conrad im ersten Abschnitt seiner Untersuchung anspricht, die uns freilich in der Gegenwart nicht allzu stark ausgebildet erscheint. Problematischer ist in unserer Sicht, daß eine nur „gefühlte“ Übereinstimmung von Inhalt und Form im Zeitalter von Subjektivität und Gefühligkeit dazu verleiten kann, den eigentlichen Inhalt und das Wesen der rituellen Handlungen hinter den eigenen Befindlichkeiten zurücktreten zu lassen – dann kann auch ein tridentinisches Levitenamt zu einer Wohlfühlveranstaltung werden, die sich in Wirkung und Auffassung kaum noch von der progressistischen Selbstfeier der im Kreis um den Altar versammelten Restgemeinde von Hauptamtlichen unterscheiden würde.
Und genau hier liegt der Wert der Darlegungen von Conrad für den ganz gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesen-Tradi, dem die (Nicht-)Übereinstimmung der Liturgie von Jahrtausenden mit dem längst im Schatten des vergangenen Jahrhunderts versinkenden Zweiten Vatikanum die geringsten Kopfschmerzen bereitet: Eine theologisch (und nicht vorwiegend historisch) fundierte Herleitung von Formen und Inhalten der überlieferten Liturgie kann das, was sonst nur als vage Übereinstimmung von Form und Inhalt gefühlt wird, auf eine solide verstandesmäßige Grundlage stellen. Auf eine Grundlage, auf der nicht nur eine „würdige Form“ erkennbar wird – die kann man bei der Zeremonie zur Throneinnahme des japanischen Kaisers im Jahr 2020 auch eindrucksvoll erleben – , sondern „Gottesdienst“ in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. So, wie es die katholische Kirche lehrt.
Ein sehr schönes Beispiel für eine solche Öffnung des Blickfeldes soll hier an dem zunächst trivial erscheinenden Gegenstand der bischöflichen Pontifikalschuhe gebracht werden, das Conrad auf S. 151 bietet. Historisch lassen sich dieses und andere Elemente des Pontifikalzermoniale aus längst vergangener Zeit herleiten: „Schon der Antike war es fremd, mit Kleidungsstücken aus tierischem Material ins Heiligtum zu treten. Deshalb legte man Kleider aus reinem Leinen an und statt der Ledersandalen solche aus Bast oder Stoff. Die christliche Antike hat das übernommen…“ Neben diese historische Ableitung stellt Conrad steht den Verweis auf das Martyrium des hl. Polykarp, der „schon auf dem Scheiterhaufen stehend des Obergewand und die Schuhe auszog und durch den Vollzug dieses Ritus zur Vorbereitung der Eucharistiefeier seinen bevorstehenden Tod in das Gesamtopfer der Kirche sinnfällig einbezog.“
Nein, aus derlei läßt sich keine unaufhebbare Verpflichtung zur Beibehaltung von Pontifikalpantoffeln im Ritus der Kirche ableiten – aber man kann zumindest erahnen, welche Dimensionen verloren gehen, wenn seine Exzellenz in Straßenschuhe zum Altar tritt. Und immer wieder macht Conrad anhand solcher inzwischen weitgehend „abgeschafften“ Zeichen, Gesten und Riten erkennbar, wie tief in die gesamte Heilsgeschichte und Glaubenswelt die überlieferten Riten eingebettet sind – und was Zelebranten und Mitfeiernden entgeht, wenn ihnen diese Riten, diese Verklammerung zwischen der Eucharistiefeier in der Zeit und dem immerwährenden Opfer und der ewigen Herrschaft des Lammes im himmlischen Jerusalem vorenthalten werden. Tatsächlich sind die beiden wesentlichen Hauptteile des Buches – „C – Ritus als gestaltgewordene Ekklesialität“ mit etwa 90 Seiten und „D – Einzelbetrachtung des Usus antiquior der römischen Messe“ mit etwa 130 Seiten genau diesem Ziel gewidmet. Und das meiste davon ist geeignet, auch dem fachtheologisch nicht vorgebildeten Leser Einblicke in den Zusammenhang von Ritus und Form zu vermitteln, die ihn deutlich über das „naive“ Verständnis hinausheben.
Um einem hier möglichen Mißverständnis zu begegnen: Diese Darlegungen sind nicht im Sinne einer „Entschlüsselung verborgener Symbole“ oder gar einer zeitgemäßen „Wiederaufnahme allegorischer Meßerklärungen“ zu verstehen. Derlei kommt wenn überhaupt nur am Rande vor. Das in Abschnitt C entfaltete Verständnis von „Ritus als gestaltgewordene Ekklesialität“, also als die Form, in der die Kirche ihr Wesen und ihren Auftrag verwirklicht, beugt jeder dahingehenden Engführung vor und sorgt im allgemeinen dafür, daß in der Fülle der Einzelelemente der Blick auf den gesamtkichlichen und den heilsgeschichtlichen Zusammenhang nicht verloren geht. Dabei geht der Autor in einigen notgedrungen nur recht knapp gehaltenen Abschnitten auch auf einen in der theologischen liturgologischen Literatur u.E. oft verdrängte Bereich ein: Die Bedeutung der Architektur bei der Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes als „Thronsaal Gottes“ oder die Stellung des Gesangs, insbesondere natürlich der Gregorianik, als eines tragenden Kultelementes, das weit über die Funktionen einer „ansprechenden“ Gestaltung hinausgeht. In diesem Zusammenhang zitiert Conrad auf S. 134 den Titel eines Buches des Eichstätter Pastoraltheologen Erwin Möde über mittelalterliche Kirchenmusik: „Sine musica nulla religio“ – was unsereinen unwillkürlich an den freilich primär auf das Breviergebet bezogenen Leitsatz aus der Jesuitenregel denken läßt: „Jesuita non cantat“. Vielleicht gibt es da ja doch einen tieferen Zusammenhang ...
Womit wir unversehens aus den eher abstrakten Betrachtungen über die wesentlichen Zusammenhänge zwischen den Inhalten des gottesdienstlichen Kultes und seinen äußeren Formen in die Realität gestoßen werden, in denen sich die Gottesdienste gegenwärtig in allzu vielen Gemeinden vollziehen: Als Menschendienste, die der Unterhaltung des Publikums dienen, gesellschaftlich wertgeschätzte „Haltungen“ vermitteln wollen oder auch nur eine Plattform für die Selbstdarstellung von „Vorzugslaien“ bieten, die gerade mit dem neu in die Gemeinde gekommenen „Leiter des Patoralteams“ in einen erbitterten Kampf darüber verstrickt sind, ihr hergebrachtes Privileg zu behalten, die Schale mit dem „geweihten Brot“ vom Tabernakel in der Seitenkapelle zum Mahltisch und auch wieder zurück zu tragen.
Solche hier pars pro toto angesprochenen Erscheinungen sind leider viel zu oft zu beobachten, als daß man sie als Einzelfälle abtun könnte. Die real existierende Liturgie wird eben in vielen Gemeinden und von vielen geweihten oder ungeweihten Aktivisten nicht aus dem Blickwinkel einer die ganze Tradition der Kirche einschließenden Lektüre des Konzils und seiner Dokumente gesehen, wie der Autor sie dankenswerterweise präsentiert, sondern als Ausdruck einer neuen Zeit, eines neuen Pfingsten, in der die verstaubten Pontifikalschuhe der Vergangenheit zu recht auf den Müll geworfen werden. Und verschärft wird das Problem noch dadurch, daß es eben nicht nur Aktivisten an der Basis sind, sondern daß die höchsten Autoritäten der Kirche diese Aktivität nicht nur dulden, sondern anführen.
Das rückt das Buch von P. Conrad bei all seinen Verdiensten in eine etwas irreale Perspektive: Der vom Autor zur Grundlage seiner Darlegungen gemachte Zusammenhang, ja die Übereinstimmung zwischen Tradition und und Zweitem Vatikanum – die nebenbei bemerkt auch von Papst Paul VI. immer wieder beschworen wurden (Ansprachen zur Promulgation de neuen Missales ) – wird von den in Traditionis Custodes zum Zuge gekommenen Vertretern einer Hermeneutik des Bruches nicht nur in Frage gestellt, sondern theoretisch abgelehnt und praktisch bekämpft.
Damit erweist sich „Kult und Form“ nicht nur als ein inhalts- und gedankenreiches Sachbuch, sondern als ein Buch der Hoffnung: Der Hoffnung darauf, daß sich die von Papst Benedikt geforderte und in vielem auch vorgelebte Lektüre des Zweiten Vatikanischen Konzils in der „Hermeneutik der Kontinuität“ letztlich auch im Leben der Kirche durchsetzen wird. Das ist nicht nur für die Priester der Petrusbruderschaft und die an der Tradition festhaltenden Gläubigen lebensnotwendig.
Sven Leo Conrad: Kult und Form - Einführung in die klassische römische Liturgie aus der Sicht des
Zweiten Vatikanischen Konzils.
Dominus Verlag Augsburg 2024, 304 Seiten, € 19,95. Zu beziehen im allgemeinen und im Online-Buchhandel.
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