Zu den gereimten Offizien des
hohen Mittelalters
15. Juli 2025
„In caelesti collegio “
Im hohen Mitelalter feierten Orte und Gemeinschaften, die sich einem bestimmten Heiligen besonders verbunden fühlten, ein Fest dieses Heiligen oft nicht nur einmal im Jahr (normalerweise am himmlischen dies natalis, dem irdischen Sterbetag), sondern mehrfach. Beim hl. Dominicus war das (und wird das wohl teilweise heute noch so gehalten) etwa der Gedenktag zur Übertragung der Gebeine nach Bologna am 24. Mai. Vielfach wurde auch der Jahrestag der Heiligsprechung als besonderer Feiertag begangen – bei Dominicus ist das der 13. Juli, beim hl. Franziskus von Assisi der 16. Juli.
Wir nehmen diesen herannahenden Gedanktag zum Anlaß, auf eine Besonderheit des Ordensoffiziums hinzuweisen, mit dem zumindest die Franziskaner jahrhundertelang diese Feiertage ihres Ordensgründers begingen: Für sie hatte Julian von Speyer (Rhetorik-Professor an der Sorbonne und Regens Chori der Könige Philipp II. und Ludwigs VIII; gest. 1250) im Auftrag von Papst Gregor IX eines der zur damaligen Zeit beliebten „Reim-Offizien“, verfaßt, bei dem nicht nur die Hymnen, sondern auch die Antiphonen und Responsorien in Reimform geschrieben waren.
Gereimte Hymnen und Sequenzen waren zu dieser Zeit längst nichts besonderes mehr. Schon ab dem 6. Jahrhundert hatte sich unter fränkisch-germanischem Einfluss der Schlußreim allmählich immer mehr in der ursprünglich reimlosen, allein dem Metrum der Silben folgenden lateinischen Dichtkunst ausgebreitet und war seit dem 9. Jahrhundert selbstverständlich geworden. Bei den Hymnen des des Offiziums ist dieser Umschwung weniger deutlich sichtbar, weil diese Hymnen oft sehr alt sind bzw. „im alten Stil“ abgefasst wurden. Daher kommen gereimte Hymnen in größerem Umfang erst in Offizien vor, die seit dem Hochmittelalter neu zusamengestellt oder überarbeitet worden sind.
Aber auch in diesen jüngeren Offizien blieben die gesungenen Teile wie Psalmen, Cantica, Antiphonen und Responsorien, die seit alters her den Vorgaben für gebundene Sprache folgten, der lateinischen Traditon entsprechend ohne Reim; die aus der Vulgata entnommenen Bibeltext und Auszüge aus den Kirchenvätern sowieso. Eine Ausnahme bilden die seit dem 13. Jahrhundert entstehenden dann auch so benannten Reim-Offizien (officia rhytmica), für die auch Antiphonen und Responsorien als gereimte Kurzgedichte verfaßt wurden. Damit einher ging auch eine bedeutsame inhaltliche Veänderung oder Verschiebung. Die tradtionellen Antiphonen und Responsorien entnahmen oft ganze Verse oder zumindest wesentliche Stichworte den Text, den sie begleiteten. Ihre gereimten Gegenstücke waren insoweit auch inhaltliche Neuschöpfungen, als sie sich auf Episoden aus der Biographie des Tagesheiligen bezogen und in der Gesamtheit eines Tagesoffiziums oft als eine Art „Kurzbiographie“ dieses Heiligen gelesen werden können – tatsächlich wurden sie denn auch oft unter der Bezeichnung „historia“ zusammengefasst.
Anscheinend waren diese Reim-Offizien sehr beliebt. Etwa 1500 sind bekannt, freilich nicht alle überliefert. Die meisten davon waren lokalen Heiligenfesten oder besonderen Anlässen gewidmet und in Klöstern und Kapiteln individuell komponiert worden. Überregionale Bedeutung erlangten nur wenige wie etwa das für den hl. Franziskus. Dessen Autor Julian von Speyer hatte übrigens auch den Auftrag zur Erstellung eines Reim-Offiziums für den hl. Dominicus erhalten, war aber vor dessen Fertigstellung verstorben.
Das Hymnarium präsentiert zum morgigen Jahrestag der Heiligsprechung Franziskus’ von Assisi den selbstverständlich gereimten Franziskus-Hymnus des Theologen und Kirchenrechtlers Kardinal Thomas Capuanus (~ 1180, † 1239), den Julian von Speyer für die Aufnahme in sein Officium Rhythmicum Sancti Francisci besonders vertonte. Zusätzlich bringen wir hier auch noch zwei Beispiele für die von Julian selbst für dieses Fest neu geschriebenen und gereimten Antiphonen. Die erste Antiphon der ersten Vesper zum Fest des hl. Franziskus lautet nach diesem Offizium:
Franciscus, vir catholicus
Et totus apostolicus,
Ecclesiæ teneri
Fidem romanæ docuit
Presbyterosque monuit
Præ cunctis revereri.
In unserer Übersetzung: Franziskus, der streitbare Mann der Kirche, voll im apostolischen Glauben gegründet, lehrte uns, den Glauben Roms festzuhalten und mahnte uns ganz besonders, den Priestern mit höchster Achtung zu begegnen.
Die zweite Antiphon spricht von den drei Päpsten, denen Franziskus im Lauf seines Lebens persönlich begegnete – Gregor IX noch vor dessen Wahl:
Coepit sub Innocentio,
Cursumque sub Honorio
Perfecit gloriosum;
Succedens his, Gregorius
Magnificavit amplius
Miraculis famosum.
Deutsch: Er begann unter Innozenz und vollendete sein ruhmreiches Werk unter Honorius, in deren Nachfolge Gregorius seinen Ruhm als Wundertäter noch vermehrte.
In beiden Fällen vernachlässigte der Dichter nicht die Aufgabe der Antiphon, den ihr folgenden Psalm vorzubereiten. Die erste Antiphon steht vor Ps. 109, der das Hohe Priestertum des Messias vorausschaut; der zweite vor Psalm 110, dessen Vers 4 lautet: Er stiftet eine Gedächtnis seiner Wunder – gnädig und voll Erbarmen ist der Herr.
Das ist hohe Kunst und tiefe Frömmigkeit in einem. Bei den Franziskanern blieb das Officium Rhytmicum denn auch 700 Jahre lang in Gebrauch, bis es nach den Bilderstürmen und Bücherverbrennungen der Liturgiereform aufgegeben wurde.
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Wissenschaft wie hier ausgebreitet fällt unsereinem natürlich nicht im Schlafe zu und dürfte auch an staatstheologischen Fakultäten schwerlich zu erwerben sein. Sie wurde uns erschlossen durch die erstaunliche Findigkeit von „perplexity“ und insbesondere durch einen dort nachgewiesenen Artikel des gelehrten Franziskaners Noel Muscat „Liturgical Texts of the First Vespers of the Officium Rhytmicum S. Francisci“, erschienen 2022 im Journal of Franciscan Culture.
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