Ist Leo XIV. Papst einer Übergangsphase?
02. September 2025
Von Abbé Claude Barth
Abbé Claude Barthe
Abbé Claude Barthe ist seit vielen Jahren „Feldkaplan“ der Traditionswallfahrt Paris-Chartres und begleite als Publizist die Tradition mit weitsichtigen Analysen. Seine hier übersetzte Einschätzung der Aussichten des neuen Pontifikats, zuerst erschienen bei Res Novae, enthält eine scharfsinnige Darstellung der Einflüsse und Ansichten, die den neuen Papst geformt und ins Amt gebracht haben, und der Kraftfelder, die ihn heute umgeben.
Dabei entwickelt der Autor Gedanken, die alle Verteidiger der Tradition in ihre Überlegungen darüber einbeziehen sollten, was von Papst Leo zu erwarten oder nicht zu erwarten ist und welche Auswirkungen das auf ihr Vorgehen in der kommenden Zeit haben kann.
Wir hatten bereits Gelegenheit auszuführen, daß das auftrumpfende Pontifikat Bergoglios wenn nicht die letzte Phase der Ära nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, so doch zumindest die Annäherung an deren Ende darstellen könnte. Vorausgesetzt natürlich, daß sich Männer der Kirche finden, die die nötige Entschlossenheit haben, das Blatt zu wenden. Solange dies nicht der Fall ist, kann man auf eine Periode des schrittweise Hinwendung zum Realismus hoffen, in der die noch vorhandenen katholischen Kräfte weiterleben und sich weiter entwickeln können. Letztlich geht es jedoch um eine umfassende Rückkehr der lehramtlichen Ordnung, nach der die Kirche Christi strebt und auf die sich ihre Hirten vorbereiten müssen.
Ein Papst zur Abmilderung der Spannungen
Die Päpste in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben viel Kraft darauf verwendet, die Brüche zu überwinden, die zwangsläufig zum Zusammenbruch der ekklesiologischen Lehre unter liberalen Vorzeichen und, nach Franziskus, auch der Ehelehre geführt hatten. Diese Lehrbrüche wurden durch die ihrerseits selbst liberalistisch verwässerte Liturgiereform erklärt. Doch keine „Hermeneutik“ konnte die Scherben des zerbrochenen Gefäßes wieder zusammenflicken. Die missionarische Botschaft der Kirche wurde weiter geschwächt, während gleichzeitig die Zahl ihrer Priester und Gläubigen zurückging. Darüber hinaus hat der Umsetzungsstil von Franziskus‘ Pontifikat weit verbreitetes Chaos verursacht.
Mehr denn je wird daher vom neuen Papst, einem Mann der Reflexion, des Gebets und des aufmerksamen Zuhörens, aber auch eines undurchdringlichen Mannes, eine Rückkehr zur Einheit gefordert. Doch zu welcher Einheit? Die, von der diejenigen träumten, die ihn ins Papstamt brachten – allesamt aus der Riege der „Konziliaren“, und noch dazu in unverkennbar bergoglianischer Färbung – die auf einen friedlich durchgsetzten Konsens hoffen, der das Festhalten an den großen „Errungenschaften“ einschließt? Oder Einheit unter dem Wort Gottes, „wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ (Hebr 4,12)? In den Tagen vor dem Eintritt ins Konklave im Mai stellten italienische Journalisten fest, daß Kardinal Prevost – ein von Natur aus ernster und zurückhaltender Prälat – der von den Bestinformierten als derjenige genannt wurde, der „antreten“ würde, besonders besorgt zu sein schien. Mit gutem Grund: Die Aussicht, die Leitung einer Kirche in ihrem gegenwärtigen Zustand zu übernehmen, konnte einen nur erzittern lassen.
Die einflussreichsten Kardinäle hatten einen Mann gesucht, der einerseits „anders“ war, andererseits aber für Kontinuität stand. Trotz einiger Reibereien in der Vergangenheit war Papst Bergoglio fähig, die Qualitäten dieses Augustinerpriesters wahrzunehmen. Denn auch in dieser Hinsicht waren Franziskus Charisma und Intuition nicht abzusprechen: Er war in der Lage, einen anders gearteteen und weniger irritierenden Nachfolger vorzubereiten. Innerhalb kürzester Zeit erhob er Robert Francis Prevost, den er 2018 auf seiner apostolischen Reise nach Peru kennengelernt hatte, in die höchsten Ränge. Dem apostolischen Administrator (2013), dann Bischof (2014) von Chiclayo, übertrug er 2023 das Amt des Präfekten des Dikasteriums für die Bischöfe, also die entscheidende Rolle in der römischen Regierung bei der Ernennung – und auch bei der Absetzung – von Bischöfen. Diese Rolle jhatte unter dem Pontifikat von Franziskus, der sich mit entschlossenem politischen Willen der Erneuerung des Bischofs- und des Kardinalskollegiums widmete, noch wichtiger geworden. Weniger als zwei Jahre vor seiner Erhebung auf den Thron Petri wurde er Präfekt, Kardinal und Präsident der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika. [1]
Mit Prevost, der mehr Peruaner als Amerikaner war, trat Lateinamerika in die Kurie ein. An seiner Seite stand eine Schlüsselfigur, der einflussreiche Msgr. Ilson de Jesus Montanari, ein 65-jähriger brasilianischer Prälat, Sekretär des Dikasteriums für die Bischöfe, ein effizienter Beamter und Bergoglianer aus dem inneren Kreis, der bereits 2013 von Franziskus ernannt worden war. Er beaufsichtigte – und beaufsichtigt noch immer – die Vorbereitung der Dossiers der zu ernennenden und der abzulehnenden Bischöfe. Als Sekretär des Dikasteriums für die Bischöfe war er auch Sekretär des Kardinalskollegiums und wurde aus diesem Grund zum Sekretär des Konklaves berufen. Franziskus hatte ihn zudem zum Vize-Camerlengo der Kirche ernannt (da der Camerlengo, insbesondere Kardinal Kevin Farrell, während der Vakanz des Bischofssitzes für die weltlichen Angelegenheiten zuständig war). Insgesamt spielte Montanari, der zu einer Art Exekutivsekretär der bergoglischen Regierung geworden war, während der Vakanz eine bedeutende Rolle und dürfte von daher bei den ersten Kardinals-Ernennungen Leos XIV. berücksichtigt werden.
Auch Kardinal Versaldi, ehemaliger Präfekt der Bildungskongregation, hat Prevosts Weg zum Pontifikat vorbereitet. Und hat tatsächlich Kardinal tatsächlich nach dem ersten Wahlgang den Rückzug von Pietro Parolin zugunsten von Robert F. Prevost ausgehandelt, und so seine schnelle Wahl gesichert? Nach der Wahl präsentierte Lucio Caracciolo, Direktor der geopolitischen Zeitschrift Limes, den neuen Papst als denjenigen, der die Gefahr eines Zerfalls des Katholizismus abwenden könne.[2] Und Alberto Melloni, Historiker und Repräsentant der Bologna-Schule, betonte seine anerkannte Fähigkeit, „Spannungen zu beruhigen“ und „Ecken und Kanten zu glätten“.[3]
Am 4. Mai, vier Tage vor der Wahl, schrieb Pater Antonio Spadaro SJ vom Dikasterium für Kultur und Bildung, ehemaliger Direktor der Civiltà Cattolica, in einem programmatischen Artikel in La Repubblica: „Die wahre Herausforderung ist nicht die Einheit, sondern die Vielfalt“, ein Artikel, den wir bereits zitiert haben[4]. „Verpflichten wir uns, unsere Unterschiede zu einem Laboratorium der Einheit und Gemeinschaft, der Brüderlichkeit und Versöhnung zu machen, damit jeder in der Kirche, mit seiner eigenen persönlichen Geschichte, lernen kann, mit den Anderen zu gehen[5].“ Die Kirche könne sich, wie jede kollektive Realität, nicht länger „einheitlich und monoton ausdrücken“, sagte Spadaro. „Zusammenhalt kann nicht in Uniformität gesucht werden, sondern in der Fähigkeit, Vielfalt anzunehmen und zu harmonisieren.“
Leo XIV. hat wahrscheinlich eine weniger umfassende Vorstellung von harmonisierbarer Vielfalt als Antonio Spadaro, doch genau mit diesem Ziel – dem der Harmonisierung, der Beruhigung – wurde er auf den päpstlichen Thron erhoben. Seine erste Botschaft am Abend seiner Wahl enthielt zehnmal das Wort „Frieden“ und forderte uns auf, „Brücken durch Dialog, durch Begegnung zu bauen“. Sein Stil und sein Vokabular, weitaus spiritueller als die seines Vorgängers, unterstreichen diesen Wunsch nach Befriedung. Seine Persönlichkeit verkörpert eine gelungene Mischung aus Einfachheit, Volksnähe und dem Wunsch, sein Amt mit seinen symbolischen Attributen zu verkörpern.
Provosts Zusicherung, daß das Engagement der Kirche für ihren synodalen Prozess fortbestehen werde, spielte bei seiner Wahl eine wichtige Rolle. Kontinuität also, aber gefestigt durch eine kanonische und spirituelle Neuausrichtung. So wird beispielsweise Pater Alberto Royo Mejía, Spezialist für die Lebensgeschichten zeitgenössischer Heiliger und Förderer des Glaubens, im Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, vom neuen Pontifex hoch geschätzt, ebenso wie Pater Clodovis Boff, ein brasilianischer Franziskaner, der zusammen mit seinem Bruder Leonardo – letzterer gab später den Klerikerstand auf – einer der großen Namen der Befreiungstheologie war. Einen Monat nach Prevosts Wahl, am 13. Juli, richtete Clodovis Boff einen offenen Brief an alle Bischöfe der CELAM, der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz[6], deren 40. Ordentliche Versammlung gerade zu Ende gegangen war und an die Leo XIV. eine Botschaft gerichtet hatte. Clodovis hatte sich darin mit folgendem Aufruf an sie gewandt: „Habt ihr verstanden, was der Papst von euch verlangt hat? Ihr Bischöfe des CELAM, wiederholt immer wieder dieselbe alte Leier: sozial, sozial und sozial. Und das seit 50 Jahren.“ Und er forderte sie auf, „die frohe Botschaft von Gott, von Christus und seinem Geist“, die von „Gnade und Erlösung“, von „Gebet und Anbetung, von der Verehrung der Mutter Gottes“ und ähnlichen Themen zu verkünden.
Man muss die Komplexität dieser Positionen begreifen und erkennen, daß dies keine Abkehr von Bergoglios Linie darstellt. Clodovis Boff beteiligte sich 2007, als die Fünfte Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Episkopats im Marienheiligtum von Aparecida in Brasilien tagte, zusammen mit dem Erzbischof von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio, der den Vorsitz der Kommission innehatte, an der Erarbeitung des Schlußdokuments der Konferenz, das zu einer Offensive gegen den „sozialisierenden Reduktionismus“ der Befreiungstheologie aufrief. Denn entgegen der landläufigen Meinung war der Peronist Jorge Bergoglio ein Antimarxist.
Eine Liberalisierung der traditionellen Liturgie als Zwischenschritt?
Wenn es dem undurchschaubaren Leo XIV. gelingt, „Spannungen zu beruhigen“, könnte sich nach vorsichtigem Abwarten kontrolliert ein größerer Raum der Freiheit für alle Strömungen eröffnen. Darauf hoffen alle – sowohl die deutschen Prälaten unter Führung des ultraprogressiven Msgr. Georg Bätzing, Bischof von Limburg, als auch die Verfechter der traditionellen Liturgie.
Daß die traditionelle Liturgie eine gewisse Schonungspause erhalten könnte, erscheint umso plausibler, als es Leo XIV. leichter fallen wird, den ihr Vertrauten Freiheiten zu gewähren, die als beruhigende Zugeständnisse angesehen werden können, als Brücken, des Willkommens für alle, ohne daß er sich in den Grundsatzfragen festlegen muss. Zwar sind in Frankreich eine große Zahl von Bischöfen, die die traditionelle Welt als unerrägliche Konkurrenz empfinden, gerade dazu nicht bereit sind und wollen daran festhalten, den Freiraum der Tradition so weit irgend möglich einzuschränken. Sie werden weiterhin an ihrer Absicht festhalten, die Präsenz von auf die alte Liturgie spezialisierten und auch alle anderen pastoralen und katechetischen Aufgaben (im Sinn der Tradition) ausübenden Geistlichen in ihren Diözesen zu minimieren. Und das selbst dann, wenn sich das Kräftegleichgewicht etwa in Provinzstädten zunehmend zugunsten des alten Ritus verschiebt. Leo XIV.ist ein entschiedener, aber leidenschaftsloser Vertreter des II. Vatikanums und hat nicht die Nähe zu einem Teil der traditionellen Welt, die Benedikt XVI. ausgezeichnet hatte. Doch von daher könnte sich sein Friedenswunsch mit dem der Verfechter eines „linken“ Liberalismus vereinigen. Kardinal Matteo Zuppi, Erzbischof von Bologna, Präsident der Italienischen Bischofskonferenz und prominentes Mitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio, ist ein gutes Beispiel für diese Art von Offenheit, die mit dem Denken von Pater Spadaro vergleichbar ist. Letzterer ging in dem oben zitierten Artikel sogar so weit, die offizielle Verleihung der sakramentalen Vollmachten an die Priesterbruderschaft St. Pius X. durch Papst Franziskus zu begrüßen. Kardinal Zuppi wiederum zögerte nicht, im alten Ritus zu pontifizieren, und leitete 2022 sogar die Eröffnungszeremonie der Rom-Wallfahrt „Summorum Pontificum“.
Im Gegensatz zu den französischen Bischöfen, die es vorziehen würden, wenn sich Traditionalisten der lefebvrianischen Welt anschließen würden, ist Zuppi (und Leo XIV.?) der Ansicht, daß es für diejenigen, die die traditionelle Liturgie praktizieren, besser sei, „drinnen“ zu bleiben, als sich unkontrolliert „draußen“ zu entwickeln.
Kann das neue Pontifikat überhaupt darauf verzichten, nicht nur Traditionalisten, sondern allgemeiner den etwas übertrieben als „lebendige Kräfte der Kirche“ bezeichneten Bewegungen, mehr Freiheit einzuräumen? Sie füllen heute die Kirchen mit Gläubigen, insbesondere jungen Menschen und kinderreichen Familien, bringen Priester- und Ordensberufungen hervor und inspirieren Bekehrungen – in Frankreich während das beispielsweise die Gemeinschaft Emmanuel, die Gemeinschaft St. Martin und einige florierende Klöster kontemplativer Männer und Frauen?
Für diejenigen, die Freiheit für die traditionelle Liturgie und den traditionellen Katechismus fordern, besteht darin ein Paradoxon, ja sogar ein Risiko: Sie sehen sich dadurch mit einer Art Ermächtigung zur liturgischen und doktrinären „katholischen Vielfalt“ konfrontiert. Wir haben bereits als Beispiel die paradoxe Situation im französischen politischen System des 19. Jahrhunderts angeführt, in der die entschiedensten Anhänger der monarchischen Restauration, die prinzipielle Feinde der durch die Revolution eingeführten modernen Freiheiten waren, unentwegt um Freiraum für Leben und Meinungsäußerung, Presse- und Lehrfreiheit kämpften. Unter sonst gleichen Bedingungen könnte eine Lockerung des Despotismus der Reform-Ideologie im Kirchensystem des 21. Jahrhunderts dennoch zumindest für die nähere Zeit von Vorteil sein. Doch anstatt uns um die Risiko zu sorgen, die mit der Opposition gegen die Reformideologie einhergehen, weil auch diese letztlich von größerer Freiheit profitieren könnte, müssen wir vor allem bedenken, daß diese Entwicklung sich zwar kurz- und mittelfristig als vorteilhaft für diese Opposition erweisen könnte, letztlich aber gundsätzlich unbefriedigend bleiben dürfte.
Warten auf Pius XIII...
„Der Inhalt seiner [Papst Leos] Aussagen deutet darauf hin, daß er beabsichtigt, den von Papst Franziskus eingeschlagenen Weg des Aufbaus einer synodalen Kirche fortzusetzen. Leo XIV. hat angedeutet, daß die Vereinbarung des Vatikans mit China über die Ernennung von Bischöfen fortbestehen werde. Er setzte sich auch weiterhin für Franziskus‘ Enzyklika Laudato Si‘ und den Aufruf seines Vorgängers zur Bewahrung der Schöpfung ein. Leo ließ sich von der pastoralen Botschaft von Franziskus‘ vielfach kritisiertem Schreiben Amoris Lætitia inspirieren. Darin heißt es, daß die Förderung der Begegnung mit Gott „nicht darin besteht, voreilige Antworten auf schwierige Fragen zu geben, sondern darin, den Menschen nahe zu sein, ihnen zuzuhören und zu versuchen, sie zu verstehen.“[7]
Auch darin erweist sich Leo XIV. durchaus als Nachlaßverwalter von Franziskus. Dieses im Wesentlichen konziliare Erbe – wenn wir die Synodalität, die sich jedem Versuch einer präzisen Definition widersetzt, und das ökologische Engagement außer Acht lassen – lässt sich in drei Texten zusammenfassen: Amoris Lætitia und Fiducia Supplicans für die Ehemoral und Traditionis Custodes für die traditionelle Liturgie.
Was die Ehemoral betrifft, ist bekannt, daß Leo XIV. die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ablehnt. Es muss jedoch berücksichtigt werden, daß die in Nr. 31 der Erklärung Fiducia supplicans[8] erlaubten Segnungen irregulärer Paare sich im Wesentlichen auf geschiedene und „wiederverheiratete“ Personen betreffen. Die wenigen homosexuellen Paare, die um einen Segen bitten, lassen die Vielzahl ehebrecherischer Paare übersehen, die Druck auf Pfarrer ausüben, um einen Segen zu erhalten, der als „kirchliche Ehe“ fungiert – und ihn in vielen Fällen auch erhalten. Tatsächlich unterstützt Fiducia Supplicans das apostolische Schreiben Amoris Lætitia, das unbestreitbar eine Herabwürdigung der katholischen Ehe darstellt. Die Problematik von Amoris findet ihren konzentrierten Ausdruck in Nr. 301[9], aus der sich folgender Schluss ziehen lässt: Manche Ehebrecher befinden sich möglicherweise nicht im Stand der Todsünde, obwohl sie wissen, welche Norm sie übertreten. Von Leo XIV. wird erwartet, dass er diese bergoglianische Lehre übernimmt, die die Heiligkeit der Ehe schwerwiegend untergräbt. Geschickte, indirekte Umgehung wird nicht ausreichen, um dem entgegen zu wirken. Papst Leo muss sie notwendigerweise billigen oder für nichtig erklären.
Die Kirche ist die Hüterin des Inhalts der Offenbarung, der Glaubens- und Sittenlehre, deren Befolgung für das Heil notwendig ist. Ihre Einheit baut auf dieser Lehre auf, die der Papst, der Nachfolger Petri, und die Bischöfe, die Nachfolger der Apostel, zu lehren haben. Zur Verteidigung des Glaubens darf man sich nicht mit Erklärungen zufrieden geben, die diese Heterodoxie abschwächen oder durch gegenteilige Lehren ausgleichen, und gleichzeitig die fehlerhafte Lehre weiterbestehen lassen. Um des Seelenheits der Gläubigen willen ist es notwendig, diese falsche Lehre auszumerzen.
Sind diese von Papst Franziskus aufgeworfenen Fragen nicht auf paradoxe Weise von der Vorsehung bestimmt? Würde Leo XIV. die Verpflichtung erfüllen, dieses bergoglianische Erbe aufzuarbeiten, böte dies die Möglichkeit, zu einem uneingeschränkt autoritativen Lehramt zurückzukehren, das im Namen Christi in allen kontroversen Fragen der Familienmoral, der Ökumene usw. das Wahre vom Falschen unterscheidet. Es müsste nicht nur zwischen dem unterscheiden, was katholisch ist und was nicht, sondern auch zwischen Katholiken und Katholiken, die sich katholisch nennen, ohne es zu sein. Andernfalls würden wir weiterhin im Unklaren darüber bleiben, was innerhalb und außerhalb einer Kirche liegt, die von einer Art Neokatholizismus ohne Dogma unterworfen worden ist.
Die Gewährung von Freiheit für die liturgische Tradition und all das, was damit einhergeht, ist sicherlich äußerst wünschenswert, – aber sie wäre nur ein Schritt. Die wahre Medizin, die das christliche Volk vom Papst zu Recht erwarten darf, ist der Dienst an der Einheit als solcher – ein positiver Dienst durch die Definition der zu glaubenden Wahrheiten und ein negativer Dienst durch die Verurteilung der zu verwerfenden Irrtümer. Denn wenn die objektive Regel des einen Glaubens das Wort Gottes ist, ist es dann nicht das Lehramt des Papstes – allein oder mit den Bischöfen gemeinsam – das den Inhalt der Offenbarungsbotschaft verkündet und dazu verpflichtet, sich daran zu halten? Ist es nicht die Aufgabe des Nachfolgers Petri, „seine Brüder zu stärken“ (Lk 22,31-32)? In erster Linie seine Mitbrüder im Bischofsamt. Darüber hinaus müssen ihm seine Mitbrüder im Bischofsamt als Nachfolger Petri befragen, drängen und ihm erforderlichenfalls sogar in lehrmäßigen Klarstellungen und Verurteilungen zuvorkommen.
Für eine solche umfasende Rückkehr zur Ausübung des ordentlichen und allgemeinen Lehramtes – und möglicherweise des feierlichen Lehramtes – anstelle eines pastoralen Lehramtes könnte das hochsensible und schwierige Problem des liturgischen Streits eine entscheidende Rolle spielen. Mit Papst Bergoglio stellt sich die Sache ganz einfach dar: Der gesamte repressive Ansatz von Traditionis custodes basiert tatsächlich auf dessen Artikel 1: „Die von den Heiligen Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. gemäß den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgierten liturgischen Bücher sind der einzige Ausdruck der lex orandi des römischen Ritus.“ Der Spruch „lex orandi, lex credendi“, der zur Zeit der pelagianischen Krise hinsichtlich der Kraft der Gnade geprägt wurde, bedeutet, daß die Gebete der Kirche in ihren Formeln ihren Glauben zum Ausdruck bringen.
Das hat sehr weitreichend e Konsequenzen.[10] Laut Traditionis custodes hat die vorreformatorische römische Liturgie mit der Reform ihren Status als lex orandi verloren. Wir wiederholen: Es ist äußerst wünschenswert, daß der neue Papst dieser Liturgie direkt oder indirekt mehr Freiheit gewährt. Doch selbst wenn das zugestanden würde, bleibt die Tatsache bestehen, daß in der Kirche heute folgender Satz gelehrt wird: Die vor der Reform Pauls VI. geltenden liturgischen Bücher bringen die lex orandi des römischen Ritus nicht zum Ausdruck. Die Frage, die das Lehramt der Kirche nun zu klären hat, lautet: Ist diese Aussage wahr oder falsch? Trifft letztere zu, muss sie verurteilt werden – mit den daraus folgenden Konsequenzen.
Für die Anmerkungen verweisen wir auf den Originaltext des Aufsatzes unter https://www.resnovae.fr/leon-xiv-un-pontificat-detape/
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