Zum Fest des „Tempelgangs Mariens“
am 21. November
21. November 2025
Marias Aufstieg zum Allerheiligsten
Der 21. November wird seit dem hohen Mittelalter als Fest des Tempelgangs Mariens gefeiert – damit erinnert sich die Kirche an eine nur aus frühchristlichen apokryphen Schriften (Protoevangelium des Jakobus, )überlieferte Erzählung, wonach das Kind Joachims und Annas im Alter von drei Jahren auf Grund eines Gelübdes, das Anna vor der ersehnten Geburt des Kindes abgelegt hatte, „dem Herrn aufgeopfert“ – d.h. in die Obhut des Tempels gegeben wurde. Im Mittelalter wurde diesem Fest wegen seines symbolischen Gehalts große Bedeutung zugemessen. Das hat sich mit der Ausbreitung von Rationalismus und historisch-kritischer Methode völlig geändert: Die wenigsten Katholiken wissen überhaupt noch, worum es dem heutigen Festgedanken geht. In den „vorkonziliaren“ Messbüchern hat die Praesentatio Mariae noch den Rang einer Duplex major – das ist quasi die höchste Stufe in der Reihe der niedrigeren Feste. Heute ist es – immerhin – noch ein gewöhnlicher Gedenktag. daß das so ist, verdanken wir der Marienfrömmigkeit von Paul VI., der dem Streben der Rationalisten, den Heiligenkalendern von allen Gestalten oder Ereignissen mit allzu legendenhaften Zügen zu reinigen, hier erfolgreich Widerstand leistete. (S. dazu auch die Apost. Exhortation Marialis CultusAbschnitt 9 von 1974).
Was es nun mit dem „Tempelgang Mariens“ tatsächlich auf sich hatte, ist damit noch nicht geklärt. Ausführliche Studien – darunter besonders lesenswert Arbeiten von Taylor Marshall und Gloria Falco Dodd haben ergeben, daß es jedenfalls zur Zeit Christi im Judentum eine Art „geweihte Jungfrauen“ und „geweihte Witwen“ gab, die in einem Gebäude des Tempels am „Vorhof der Frauen“ lebten und gerade wie die Nonnen späterer christlicher Zeiten die Priesterschaft mit Arbeit und Gebet unterstützte. Eine dieser frommen Frauen ist uns aus dem Neuen Testament namentlich bekannt: Die Prophetin Anna, die nach dem Tod ihres Mannes schon seit vielen Jahrzehnten als Witwe im Tempel lebte und die Gnade erhielt, den Jesusknaben bei seiner Vorstellung im Tempel zu sehen und als Messias zu erkennen. (Lukas 2, 22 ff)
Bei diesen „Nonnen“ handelte es sich jedoch zweifellos um ältere Frauen – wesentlich älter als das Kind Maria, von dem im Protoevangelium gesagt wird, daß es nach dem dritten Geburtstag in den Tempel gegeben wurde und diesen bei Eintritt der Pubertät wieder verlassen mußte. Vom Alter her gesehen könnte Maria daher eher zu jener Gruppe von jungen Mädchen gehört haben, die – vielleicht zur Vermittlung einer frommen Erziehung und hauswirtschaftlicher Fertigkeiten – ebenfalls eine Zeitlang im Tempel lebten und dort unter anderem damit betraut waren, den Vorhang vor dem Allerheiligsten zu erhalten und erforderlichenfalls zu erneuern. Daß es solche Mädchen oder junge Frauen spezielle für diese Aufgabe gab, ist aus Schriften der Mischna und des babylonischen Talmud belegt. Der Vorhang zwischen dem Allerheiligsten und dem Heiligtum hatte im Tempelkult höchste symbolische Bedeutung als Markierung des Übergangs von der ungeschaffenen Sphäre der Gottheit zur geschaffenen Welt und stellt als solche eine höchst bemerkenswerte Vorgestalt von Schöpfung und Inkarnation dar. Im Protoevangelium des Jakobus heißt es denn auch an anderer Stelle tatsächlich, daß Maria die Verkündigung des Engels erhielt, als sie gerade mit Webarbeiten für diesen Vorhang beschäftigt war. Historische Tatsachen und fromme Legende bilden hier selbst ein symbolisches Gewebe, das auch dann Ausdruck einer höheren Wahrheit ist, wenn die historischen und faktischen Einzelheiten beim Blick „von unten“ nicht so recht zueinander passen wollen.
Neben diesen bereits genannten Arten von „Tempeljungfrauen“ bzw. -witwen gab es noch eine dritte, nicht scharf abzugrenzende Gruppe: Kinder, die bereits vor ihrer Geburt von der Mutter aufgrund einer besonderen Notlage „dem Herrn geweiht“ wurden (z.B. Samuel, 1; Sam 1) und die später sobald sie ohne die Mutter lebensfähig waren, einer heiligen Stätte anvertraut wurden. Das mußte nicht unbedingt der Tempel von Jerusalem sein, das konnte auch eines der vielerlei Heiligtümer im Land sein, die immer noch am Ort früherer Tempel bestanden oder die sich am Wohnort eines als Propheten anerkannten frommen Mannes gebildet hatten. Welche Stellung solche „dem Herrn geweihten“ Kinder dann in einem solchen Heiligtum hatten, ist wie so vieles, das mit diesen Plätzen zu tun hat, weitgehend unbekannt. Die Erzählung des Protoevangeliums von den Jahren Marias im Tempel vermischt Elemente beider Arten von „geweihten Kindern“ und ist für historische Auskünfte nur begrenzt ergiebig.
Der Bericht von der Übergabe Mariens an den Tempel wird dort verhältnismäßig kurz gehalten:
Als das Kind drei Jahre alt wurde, sagte Joachim: „Lass uns die Töchter der Hebräerinnen rufen, die Unbefleckten.“ Und lasst sie jede mit einer brennenden Fackel stehen, damit sie sich nicht nach hinten wendet und ihr Herz sich nicht vom Tempel des Herrn abwendet. Und so verfuhren sie, bis sie in den Tempel des Herrn hinaufgingen. Und der Priester des Herrn nahm sie entgegen, küsste sie, segnete sie und sagte: „Gott der Herr, hat deinen Namen in allen Generationen groß gemacht. Durch dich wird der Herr den Söhnen Israels die Erlösung offenbaren am letzten der Tage.“ Und er setzte sie auf die dritte Stufe des Altars, und Gott, der Herr, legte Gnade auf sie, und sie tanzte mit ihren Füßen, und das ganze Haus Israels liebte sie. Und ihre Eltern gingen hinab, staunend und lobpreisend und verherrlichend Gott den Herrn, weil er sich nicht von ihnen abgewandt hat. Maria war aber im Tempel des Herrn, wie eine Taube, die genährt wird, und sie erhielt Nahrung aus der Hand eines Engels.“ (https://nicofranz.art/kunsttheorie/protoevangelium-des-jakobus)
Der barocke Meistererzähler Martin von Cochem macht aus diesen wenigen Sätzen vier Kapitel mit umfangreichen Schilderungen des Lebens der (ersten) heiligen Familie Joachim, Anna und Maria in Nazareth und einer ebenso ausführlichen Darstellung der Reisevorbereitungen und schließlich der Reise nach Jerusalem zum Tempel. Daraus zwei kurze Ausschnitte:
Als sie nach vieler Mühseligkeit nach Jerusalem kamen, berief die heilige Anna viele Priester und Leviten, daß sie dieser Feierlichkeit beiwohnen und den Kirchgang zieren helfen möchten.Sie lud auch viele Jungfrauen ein, die ihr verwandt oder bekannt waren, und die sich alle auf das schönste schmückten und brennende Lampen in ihre Hände nahmen. Endlich kamen auch dazu ihre Freunde und Verwandten, so daß eine ziemliche Anzahl Menschen bei dieser Feierlichkeit waren, und alle gingen nun in schöner Prozession zum Tempel. Zuvörderst gingen die Jungfrauen mit ihren Lampen, darauf folgten Joachim und Anna und hatten das zarte Kind an der Hand. Dieses war aufs schönste geziert und hatte eine brennende, mit Blumen gezierte Kerze in seinen Händlein, es sah so lieblich aus, als ob es ein Engel vom Himmel gewesen wäre. Danach folgten die Priester und Leviten, mit ihren geistlichen Kleidern gar zierlich bekleidet, und sangen in lieblicher Melodie den 44. Psalm der da anfängt: Es überströmt mein Herz von guter Rede. Gar schön reimt sich dieser Psalm zu der Aufopferung Mariä; vielleicht ist er von den heiligen Geiste dem Propheten David zu diesem Ende eingegeben worden. (…)
Gemeint ist hier der gemäß der strengen Anweisung von Papst Luther heute als Nr. 45 gezählte Psalm von der Zuführung der Braut des Königssohns, der hier als prophetische Vorausschau eben dieser Übergabe des Kindes Marias an den Tempel des Herrn gedeutet wird. Später geht es weiter:
So gingen sie durch etliche vornehme Straßen der Stadt Jerusalem, bis sie endlich den Berg Moria hinaufstiegen. Und da sie zum Tempel kamen und St. Anna ihr Töchterlein die fünfzehn Stufen hinauftragen wollte, da wollte das Kind nicht getragen, noch an der Hand geführet werden, sondern stieg allein die fünfzehn Staffeln so hurtig hinauf, als wenn es fünfzehn Jahre alt wäre, so daß sich alle Anwesenden darüber verwunderten. An der vordersten Kirchentür stand in geistlichen Kleidern der heilige Priester Zacharias mit etlichen Leviten, die das Mägdlein empfangen sollten.
Der Priester Zacharias nahm das Kind entgegen, um es vor den Altar zu führen. Die Eltern folgten zum Altar, stellten sich zu beiden Seiten des Mägdleins auf, knieten mit ihm nieder, und das Kind schön zwischen sich haltend, opferten sie es mit diesen Worten dem Herrn auf: Allmächtiger ewiger Gott, Du hast unser Elend angesehen und die Schmach der Kinderlosigkeit von uns genommen, siehe, hier bringen wir das Kind, das wir dir versprochen haben, noch ehe es empfangen war…“
Wir verzichten hier sowohl auf den langen restlichen Teil des Gebetes und ebenso auf die Schilderung des anschließenden Opfers der mitgebrachten Kälber und Schafe sowie des folgenden Fest- und Opfermahl aller Teilnehmer – bei dem unverkennbar das Hochzeitsmahl des Königssohnes von Mt. 22 anklingt. Den Abschluß bilden die sehr gefühlvoll ausgemalten Szenen vom Abschied der Eltern von ihre nun als Braut des Herrn im Tempel zurückbleibenden Kinde.
Stattdessen wenden wir uns drei Fragen zu, die vielleicht dem einen oder anderen Leser gekommen sein mögen: Warum spricht der Erzähler hier so schlichtweg von einer Kirchentür – wo es doch um den Eingang zum Tempel geht? Und woher weiß er den Namen des an dieser Türe stehenden Priesters: Zacharias – und um dessen Heiligkeit obendrein? Und was um alles in der Welt läßt ihn von 15 Stufen reden – wo uns doch wahrhaftig weder Bauzeichnungen noch Photos vom Tempel überkommen sind, genausowenig wie Tonbandaufnahmen von den Predigten Jesu, woran uns zu erinnern sich Oberjesuit Arturo Sosa vor ein paar Jahren veranlaßt sah.
Nun, den Priester an der Kirchentür erkannte Pater Martin sofort – das konnte überhaupt kein anderer sein als Zacharias, der Mann der ebenfalls so lange kinderlosen Elisabeth und dann doch auf wunderbare Weise Vater des hl. Johannes, Vorläufer und Herold des Messias. Und der Tempel und die Kirche – die bildeten für den Mönch der Barockzeit ein untrennbares Kontinuum, daran konnte auch keine gegenseitige Anfeindung und kein periodisch wiederkehrendes Pogrom etwas ändern. Die Kirche war das erneuert weiterlebende Israel, und jeder Kirchenbau war ein Stück vom Tempel auf dem Zionsberg. Das Buzzwort vom „Dialog“ war zwar noch nicht erfunden, aber daß „David“ (d. h. der Psalter) die aus der Vorzeit herüberklingende und aufgenommene Stimme des Gottesvolkes war – das wußte doch jeder. Und wenn es im Psalter 15 „Lieder des Aufstiegs“ (Stufenpsalmen, Vulgata Nr. 119 – 133) gab, dann mußte es doch auch eine Treppe mit 15. Stufen geben. Gerade so, wie es auf unserem oben gezeigten Bild von Giovanni Battista Conegliano (1460 – 1518) (und nicht nur dort) in einer Weise gezeigt ist, an der der Surrealist Salvador Dali seine helle Freude gehabt hätte.
Das neue Testament bietet uns ein in weiten Teilen höchst realistisches und geradezu erdverhaftetes Bild von Jesus und seiner Lehre. Nachchristliche Apokryphen wie das Protoevangelium des Jakobus fügen dem oft eine surrealistische Dimension hinzu, die recht gelesen nicht weniger wahr ist als der Realismus des Neuen Testaments selbst – und oft viel zu dessen Verständnis beiträgt. Von daher können wir also durchaus dankbar sein, daß Papst Paul VI. uns das von dieser Apokryphe inspirierte Fest der „Opferung Mariens“ bewahrt hat. In seinem Apostolischen Schreiben Marialis Cultus von 1974 hat er ohnehin viel Bewahrenswertes festgehalten, das heutigen Schreiberlingen zum Thema „Marianische Titel“ schrill in den Ohren klingen dürfte – wenn sie denn jemals davon gehört hätten.
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