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Organisches Wachstum der Liturgie braucht fruchtbaren Boden

26. Februar 2024

Kommentar und Kategorisierung

Das Wandgemälde zeigt als Szene, wie Jesus und seine Mutter dem hl. Dominikus den Rosenkranz überreichen

Dominikus empfängt aus den Händen Jesu und Mariä den Rosenkranz

In seinem Artikel über den Appendix „Pro Aliquibus Locis“, den Sie hier übersetzt lesen können, hat Fr. Hunwicke einige wichtige Einischten in das Wesen des „organischen Wchstums“ von Liturgie zum Ausdruck gebracht. Zentrale Punkte: Die liturgische Entwicklung vollzieht sich in einer Art Rückkopplung zur Kultur der christlichen Gesellschaft, die er gleichzeitig formt und zum Ausdruck bringt. Und in dieser Kultur Europas hat sich – nach Hunwicke Ende des Mittelalters – ein Wandel vollzogen, den der Autor unter dem Kürzel „gefühlsbetonte Frömmigkeit der Gegenreformation“ zu fassen versucht.

Das verlangt ein genaueres Hinschauen – wozu man freilich den Beginn des zu beobachtenden Zeitraumes weit vor die von Hunwicke benannte Gegenreformation zurückverlegen sollte: In die Endphase des hohen Mittelalters vom 11. bis ins 13. Jahrhundert. In diese Zeit fällt in den verschiedenen europäischen Ländern, die nicht oder nur oberflächlich „romanisiert“ waren, tatsächlich eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung: Die alte Feudalgesellschaft, die im Prinzip nur „Herren“ und „Knechte“ kannte, löste sich allmählich auf, und zwischen die beiden auch in sich stärker ausdifferenzierten Hauptgruppen der Vergangenheit schob sich eine immer breiter werdende städtiche Zwischenschicht: Händler, Handwerker, Großbauern, um nur einige der wichtigsten anzuführen. Und diese Zwischenschicht eignet sich – in unterschiedlichem Umfang, versteht sich - Güter und Werte an, die vorher Privileg der obersten Herrenschicht gewesen waren: Neben größerer persönlicher Freiheit der Lebensgestaltung ein gewisses Maß an Bildung und an „freier Zeit“, die die Voraussetzung zu jeder kulturellen und auch religiösen Selbstbetätigung bilden.

Bis dahin war die Liturgie tatsächlich weitgehend „Klerikerliturgie“. Die Kleriker entstammten zwar nicht alle der Herrenschicht, bildeten aber eine doch dieser nahestehende, fast möchte man sagen „Kaste“, die mit dem Vollzug der religiösen Riten (hauptsächlich für die anderen Mitglieder der Herrenschicht) und einer sehr rudimentären „sittlichen Bildung“ des einfachen Volkes beauftragt war. Impulse zur Popularisierung von Lehre und Liturgie gingen von der Herrenschicht und deren klerikalem Dienstpersonal kaum aus und waren oft weniger theologisch begründet, sondern beruhten auf persönlichem Geschmack oder politischen Motiven von Herrschern. Ein Beispiel mag die von Kaiser Karl von Rom erbetene Übernahme des weihnachtlichen Gloria in den allgemeinen Sonntagsgottesdienst sein. Ein in der Regel nicht allzu anspruchsvolles religiöses Leben im eigentlichen Sinne fand bestenfalls an den Höfen der weltlichen und geistlichen Herren statt – und natürlich in den zahlreichen Klöstern, die auf vielerlei Weise mit der Herrenschicht verbunden waren. Über das religöse Leben des einfachen Volkes der frühen Zeit wissen wir – oder weiß zumindest unsereins – sehr wenig. Sehr differenziert scheint es unter den extrem einschränkenden Bedingungen des Alltagslebens jedenfalls nicht gewesen zu sein – um es zurückhaltend auszudrücken.

Hier hat es im Zusammenhang mit den oben angedeuteten gesellschaftlichen Enwicklungen etwa ab dem 11. Jahrhundert tiefgehende Veränderungen gegeben. Zunächst im Klerus selbst, der unter dem Einfluß von Reformbewegungen (Stichwort Cluny) und von großen Kirchenlehrern wie Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux, Albertus Magnus oder Thomas von Aquin eine neue Ernsthaftigkeit in die seit der Zeit der Kirchenväter teilweise in Formalismus erstarrte Theologie und Glaubenslehre brachte. Schon hier zeichnet sich – etwa besonders deutlich bei Bernhard von Claivaux – ab, daß diese Ernsthaftigkeit mit einer stärkeren Lebensnähe einherging: Auch Theologie und Pastoral entdeckten (wieder, wie man mit Blick auf die griechisch-römische Antike sagen muß) die Individualität und die vielfältigen psychischen Regungen und Ausdruckswesen der Menschen. Religion besteht nicht nur aus der Kentnis von Lehrsätzen und Ritualen, sondern erfaßt auch die emotionalen Seiten der Menschen.

Parallel (und sicher nicht ohne Zusammenhang damit) zur hohen Minne der höfischen Dichtung entwickelten sich die „Marienminne“ und verschiedene mystische Tendenzen, die alle eines gemeinsam hatten: Das Bestreben, Inhalte der Glaubenslehre individuell erfassbar und erfahrbar zu machen und aus dem Raum abstrakter Dogmatik unmittelbar in das geistige und emotionale Erleben der Menschen zu transformieren.

Im Verlauf dieses Prozesses konnten immer mehr Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, auch den unteren, etwas entwickeln, was wir heute wohl als „spirituelle Interessen“ bezeichnen würden – und immer mehr Angehörige des Klerus sahen sich aufgefordert und waren bereit, dem entgegen zu kommen. Tatsächlich führte dieser Prozess mit der Entstehung der Mendikantenorden zu einer fast revolutionären Veränderung in Klerus und Pastoral selbst. Geradezu explosionsartig entstand eine alle Schichten erfassende Volksfrömmigkeit, die die bis dahin vorherrschende „Schriftgelehrtheit“ durch ihr Bedürfniss nach Konkretheit und Anschaulichkeit enorm bereicherte – und manchmal auch auf Abwege führte. Die Verehrung der Heiligen, an erster Stelle natürlich der Gottesmutter Maria, spielte in diesem Prozess der Vermenschlichung eine hervorragende Rolle. Die Heiligenverehrung bot die Vorbilder und Identifikationsmöglichkeiten, sich selbst wenn nicht auf das Ziel der Heiligkeit, so doch in Richtung auf ein gottgefälliges Leben, auszurichten.

Womit wir wieder bei dem von Fr. Hunwicke nur in knappen Stichworten angedeuten Prozess wären. Die Identifikation mit dem Vorbild der Heiligen gab dem Glaubensleben zunächst auf der individuellen Ebene starke/neue Impulse, die zur „Erfindung“ oder zumindest Popularisierung des Rosenkranzgebetes und der Entstehung von Devotionsformen wie des Gedächtnisses der Sieben Schmerzen Mariens oder der Wunden und Marterwerkzeuge des Erlösers führten. Diese Devotionen haben erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des Festkalender der Kirche ausgeübt und so das „organische Wachstum“ der Liturgie mitbestimmt – und zwar bemerkenswerter Weise nicht als Ergebnis einer päpstlichen Eingebung (derlei kam erst später) oder auf Beschluss eines hochgelehrten „Consiliums“ (noch später), sondern quasi „von unten“, aus dem Glaubensleben der Menschen herausgewachsen.

In diesen Zusamenhang gehört auch die aus der Devotion des „Corpus Christi“ hervorgegangene Einführung des Fronleichnamsfestes, das in Schritten von Lüttich im ausgehenden 13. Jahrhundert schließlich auf die ganze Welt ausgeweitet wurde. (Hier findet man ein lesenswertes Beispiel für die totale Verständnislosigkeit der Gegenwart für die Frömmigkeit des Mittelalters – die doch die Tradition unseres Christ-Seins wesentlich mitgeformt hat). Die Corpus-Christi-Devotion hat aber nicht nur den Festkalender der Kirche beeinflusst, sondern auch ein liturgisches Detail unseres Gottesdienstes bestimmt: Die Elevation der verwandelten Gaben, die ursprünglich nur deren Erhebung zum Vater versinnbildlichte und deshalb nur bis zur Brusthöhe des Zelebranten erfolgte, wurde unter dem Einfluß der Corpus-Christi-Devotion zusätzlich zu einem Akt der Präsentation vor der Gemeinde und Anstoß zu besonderen Frömmigkeitsübungen erweitert.

Diese Entwicklungen wären jedoch kaum möglich gwesen, wenn die genannten (und zahlreiche ungenannte) neuen Devotionen im inneren und individuellen Bereich verblieben wären und nicht nach einem gesellschaften Ausdruck ihre Praxis gestrebt hätten. Die neuen Frömmigkeitsformen drängten geradezu danach, konkretisiert und materiell fassbar gemacht und in der Gemeinschaft Gleichgesinnter „ausgelebt“ zu werden. Die Abbilder der Marterwerkzeuge (Arma Christi) des Kreuzestodes wurden nicht nur geistig vorgestellt, sondern als Gemälde oder Schnitzwerk „materialisiert“, in der Kirche auf einen Ehrenplatz gestellt und an passenden Feiertagen in Prozession durch die Stadt getragen. Ebenso die Reliquien der Heiligen und natürlich ganz besonders der von einem goldenen Strahlenkranz umgebene „Corpus Christi“, in der Monstranz.

All das mußte geplant, organisiert und nicht zuletzt finanziert werden – und so entstanden besondere Bruderschaften, die sich dieser Aufgaben annahmen. In Spanien gibt es, worauf Fr. Hunwicke mit seinem Hinweis auf die berühmtesten Schnitzer solcher Devotionsfiguren hinweist, davon heute noch starke Restbestände. In Deutschland wohl nur noch sehr punktuell – etwa in Paderborn, wo das 9-tägige Libori-Fest trotz seiner starken Säkularisierung immer noch einen Eindruck davon geben kann, wie das zu früheren Zeiten bei solchen Festen, Umzügen und Bruderschaften zugegangen sein muß, die in vielen Städten auch mehrmals im Jahr stattfanden und den Kalender und das ganze Leben strukturierten. Das Phänomen der Säkularisierung sollte man übrigens nicht ausschließlich kritisch sehen: Eben wegen ihrer gesellschaftlichen Verwurzelung in Bruderschaften oder Stadtvierteln hatten solche Heiligenfeste immer auch eine starke säkulare Komponente, die ihrerseits wieder auf eine Rückbindung der Gesellschaft an den Heiligenkalender und die darin ausgedrückten Wertvorstellungen hinwirkte. Die Getrenntheit und nachgerade Gegensätzlichkeit von religiöser und weltlicher Sphäre ist eine modene Entwicklung, die nicht nur begrüßenswerte Folgen hervorgebracht hat.

Und gerade deshalb, weil diese beiden Sphären in der Spätzeit des Mittelalters noch nicht konsequent voneinander getrennt waren, konnten die außerhalb der Kirchengebäude gelebten Frömmigkeitsformen auch wieder auf die Gottesdienste in der Kirche zurückwirken – nicht nur bei der Elevation in der Messliturgie oder bei den Andachten vor ausgesetztem Sakrament, sondern auch bei heute als nicht zur eigentlichen Liturgie gezählten Devotionen wie Krippenspielen oder Kreuzwegandachten. Der weitere „liturgische Raum“ war unter diesen Bedingungen der engen Verbindung mit dem gesellschaftlichen Leben in ständiger Bewegung – und die kirchliche Autorität war besonders beim Kalendarium, aber nicht nur dort, bereit, darau kommende Anregungen in die eigentliche Liturgie aufzunehmen.

Irgendwann in der Neuzeit schrumpfte dann dieser mit der Gesellschaft eng verbundene weitere liturgische Raum immer stärker ein und wurde weitgehend unfruchtbar. Das führte nicht nur zu gewissen Erstarrungserscheinungen, sondern brachte auch die kirchliche Autorität auf den Gedanken, daß es nun ihre Aufgabe sei, die aktive Entwicklung der Liturgie in ihre Hände zu nehmen und wissenschaftlichen Autoritäten und amtlichen Gremien anzuvertrauen. Mit kläglichem Resultat überall da, wo das angesprochene Umfeld besonders ausgedorrt ist – wie man in Deutschland z.B. an Organisationen wie dem Kolpingbund, dem ehemals katholischen „Frauenbund“ oder dem ebenso ehemalig katholischen Jugendbund ablesen kann. Was von daher in Gottesdienste und Liturgie einsickert, ist nur noch gemeingefährlich.

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