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Der „gute Wille“ der Liturgiereformer

16. März 2024

Kommentar und Kategorisierung

Der Papst auf seinem Thron bei der Verlesung der Eröffnungsansprache

Papst Johannes XXIII. eröffnet das Konzil

Gleich zu Beginn (3. Absatz) seines Artikels über die Wurzel der Liturgiekriege trifft Kevin Tierney eine sehr wichtige Feststellung, wenn er schreibt:

„Ich gehe nämlich davon aus, daß die meisten Personen, die an der Schaffung des Novus Ordo beteiligt waren, (mit einigen wenigen Ausnah­men) gutwillige, jedoch fehlgeleitete Leute waren. Ich bleibe (ebenfalls mit einigen Ausnahmen) dabei, daß die meisten Handlungen der Päpste seit dem Konzil aufrichtig gemeint waren, aber ganz entschieden verfehlt waren, weil sie von einer leichtfertigen Voraussetzung ausgingen, fast von einer Wette oder einem Glücksspiel.“

Diese Feststellung ist deshalb extrem wichtig, weil es nur unter dieser Voraussetzung möglich ist, die prinzipielle Gültigkeit des Novus Ordo anzuerkennen und das im anderen Fall unvermeidliche Abgleiten in den Sedisvakantismus zu vermeiden. Die persönlichen Motive eines Hannibal Bugnini, der immer wieder mehr oder weniger überzeugend in Verbindung mit der Freimaurerei gebracht wird, mögen eine der von Tierney eingeräumten Ausnahmen sein – entscheidend für den Gesamtvorgang ist das nicht.

Allerdings ist unübersehbar, daß diese Unterstellung des guten Willens bei vielen Kirchenmännern im Lauf der Zeit an Kraft verliert: Was 1970 noch als Ergebnis mangelnden Wissens über die Liturgiegeschichte oder Unkenntnis psychologischer und gesellschaftlicher Faktoren erklärt werden mag, kann für die Theologen und Prälaten von 2010, die erbittert gegen Benedikts Versuch eines „Liturgischen Waffenstillstandes“ ankämpften, nicht mehr als Entschuldigung hingenommen werden. Hier sind immer öfter auch „unedle“ Motive zu vermuten – bis dahin, des persönlichen Vorteils wegen der Kirche Christi massiv schaden, ja sogar sie vernichten zu wollen. Darauf ist noch zurückzukommen.

Zunächst jedoch ein Blick auf die Ausgangssituation, auf die Jahre vom Kriegsende 1945 bis zum Start des Konzils und der Verabschiedung der Liturgiekonstitution. In diesem Zeitrahmen bleiben frühere problematische Reformprojekte wie die missglückte Brevierreform Pius X. und die ebenso misslungene Reform der Karwoche unter Pius XII. unberücksichtigt. Sie lassen zwar schon Keimformen des späteren Unheils erkennen, sind jedoch nach Schwere und Reichweite nicht mit der Reform-Katastrophe Pauls VI. zu vergleichen. Man sollte sich ihrer hauptsächlich deshalb erinnern, weil es in der Geschichte nie vorkommt, daß etwas, das am einen Tag noch gar nicht da war, am nächsten Tag als geschichtsmächtige und unwiderstehliche Kraft auf den Plan tritt. Die Geschichte der Liturgiereformen reicht weit in die allgemeine Reformationsgeschichte nach Luther zurück. Die verhängnisvolle, aber schnell korrigierte Brevierreform des Kardinals Quignonez datiert ins Jahr 1535; auch in Trient war nicht alles das pure Gold; und die „Räubersynode von Pistoya“ (im Vor-Revolutionsjahr 1786) erscheint in vielem schon als Generalprobe des Auftritts der Konzilsgeister in den Jahren nach 1965.

Trotzdem war die Kirche in all diesen Jahrhunderten immer wieder fähig, ihre Krisen mehr oder weniger erfolgreich zu bestehen und ihre Tätigkeit zum Heil der Seelen fortzusetzen. Genau diese Fähigkeit scheint sie im Lauf des 20. Jahrhunderts verloren zu haben, und die zumindest im früheren Kerngebiet der katholischen Kirche, in Mitteleuropa, völlig misslungene Liturgiereform ist der offensichtlichste Ausdruck dieses Verlustes.

Um das besser zu verstehen, muß man genauer auf die soziale und psychologische Entwicklung dieses Raumes zurückschauen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erschien in den 50er und 60er Jahren wie eine einzige große Katastrophe, ein unaufhaltsamer Sturz in den Abgrund: Die Millionen Kriegstoten des ersten Weltkrieges und der anschließende Umsturz aller vertrauten politischen Ordnungen mit der Ab­dankung der zentraleuropäischen Monarchien und der Oktoberrevolution in Russland; die Weltwirtschaftskrise und Inflation, Aufstieg des Faschismus in Deutschland und Italien mit der Folge von Ausschwitze, noch mehr Kriegstoten, Bombenkrieg gegen die Bevölkerung und Zusammenbruch. Die meisten Mitteleuropäer sahen sich in den Jahren 1944 – 1947 wirtschaftlich und moralisch in die Steinzeit zurückgeworfen. Ab 1948 setzte dann ein zunächst zögerlicher „Wiederaufbau“ ein, der dann zu Beginn der 50er Jahre und spätestens ab 1955 auch für die Masse der Menschen in einen unerwarteten und kaum glaublichen Aufstieg überging. Ein paar Jahreszahlen zur Verdeutlichung:

Die Eröffnung des Konzils fällt damit in eine Zeit, in der die Menschen – zumindest in Europa – sich von einem ungeheuren Aufschwung getragen sahen. Die Verzweiflung und die in vielen Fällen damit einhergehende Zerknirschung, die die Menschen nach dem Kriegsende erfaßt hatten, waren weitgehend vergessen, es ging auf allen Seiten wieder aufwärts, und all das, so schien es, verdankten die Menschen ihrer eigenen Kraft. Alle Grenzen und Beschränkungen (im Guten wie im Schlechten) der Vergangenheit wurden zur Disposition gestellt. Nichts schien mehr unmöglich – Ewiger Frieden, Ausrottung von Hunger und Krankheit, „Man on the Moon“… Einer der wirkungsmächtigsten Vertreter des damaligen Hyperoptimismus ist der französische Jesuit, Evolutionswissenschaftler und Philosoph Teilhard de Chardin, dessen Bücher nach seinem Tod 1955 nachgerade zu Bestsellern wurden und auch heute noch in Theologenkreisen starken Einfluß ausüben. In ihm fand die These von der unendlichen Höherentwicklung des Menschen bis zu einem Punkt in der Zukunft, an dem sie sich mit dem kosmischen Christus vereinigt (oder diesen erst so recht hervorbringt?) ihren wirkungsvollsten Vertreter. Wie viele mit guten Gründen annehmen ein: moderner Vertreter der anderthalb Jahrtausende alten Irrlehre des Pelagius.

Spuren dieses Denkens von de Chardin sind unverkennbar, wenn der Papst sich bei seiner Eröffnungsrede zum Konzil gegen die von ihm als „Unglückspropheten“ apostrophierten konservativen Mahner wendet und Ihnen entgegenhält:

Es begint ein Zitat

„In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche, die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muß man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meist über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel, und alles, auch die entgegengesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heil der Kirche.

Das läßt sich leicht feststellen, wenn man aufmerksam die schweren politischen und wirtschaftlichen Probleme sowie die heute schwebenden Streitfragen durchdenkt. Die Menschen werden von diesen Sorgen so erfüllt, daß sie keine Zeit mehr haben, sich um religiöse Fragen zu kümmern, mit denen sich das heilige Lehramt der Kirche beschäftigt. Ein solches Verhalten ist sicher nicht frei von Bösem, und es ist füglich zu verurteilen. Niemand kann aber leugnen, daß diese neuen Verhältnisse des modernen Lebens wenigstens den Vorzug haben, die zahllosen Hindernisse zu beseitigen, durch welche einst die Kinder dieser Welt das freie Wirken der Kirche zu behindern pflegten.“

Wie sehr dieser Optimismus nicht nur das Denken des „Aggiornamento“-Papstes prägte, sondern auch eher nüchterner Wissenschaftler wie des zu Recht heute von den Bewahrern der Tradition hoch geschätzten Liturgiewissenschaftlers Klaus Gamber, kann man aus den Sätzen ersehen, mit denen Gamber die Einleitung seines 1966 erschienenen Buches über die „Liturgie übermorgen“ abschließt:

Es begint ein Zitat

Vielleicht haben die Recht, die glauben, daß erst jetzt, nach fast zweitausend Jahren Kirchengeschichte, die eigentliche Blütezeit der Kirche beginnt. Das 2. Vatikanische Konzil und insonderheit Papst Johannes XXIII., der es einberufen hat, haben jedenfalls die Türen zu einer neuen Entwicklung weit geöffnet. Die kommende Kirche wird nicht so sehr, wie vielfach in früherer Zeit, nach außen hin machtvoll in Erscheinung treten; sie wird vielmehr versuchen, nach manchen Irrwegen in den vergangenen Jahrhunderten wieder zur vollkommenen Einheit und immer mehr zu einem inneren Wachstum, „zur Vollreife des Mannesalters Christi“ (Eph 4, 13) zu gelangen.

Von zahlreichen Prälaten und Theologen der Zeit, und durchaus nicht nur aus dem Dunstkreis Rahners, sondern auch aus der ehedem so erfolgversprechend angetretenen „Liturgischen Bewegung“, lassen sich ähnliche Zeugnisse des Glaubens an den für sicher geglaubten „Wandel zum Besseren“ anführen. Die Warnung Pius X. vor den Verlockungen des Modernismus war vergessen; der von ihm eingeführte „Antimodernisteneid“ für die Priester und Amtsträger der Kirche, der freilich in der Praxis längst gescheitert war, wurde 1967 abgeschafft: Freie Bahn dem Fortschritt in ein neues goldenes Zeitalter. Und das haben wir inzwischen ja auch glücklich erreicht.

Unsere Kritik an den Fehlurteilen und Irrtümern der 60er Jahre gilt weniger denen, die damals diese Irrtümer propagierten und auf deren Grundlage weitreichende Fehlentscheidungen trafen – auch wenn dem einen oder anderen der damaligen Akteure ein wenig mehr Bescheidenheit und Einsicht in die Beschränkungen menschlichen Handelns wohl angestanden hätte. Das gilt vor allem auch hinsichtlich Pauls VI., den die aus leicht durchschaubaren kirchenpolitischen Motiven durchgezogene „Heiligsprechung“ nicht vor der kritischen Bewertung seines „Reform“-Starrsinns schützen kann. Die Kritik gilt vor allem denen, die heute, nach 60 Jahren, in denen die Fehler der damaligen Denkansätze von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher erkennbar geworden sind, diese Fehler und Fehlentscheidungen mit geradezu „rattenhafter Wut“ (Heinrich Böll) verteidigen. Und das, obwohl diese Fehler von „nachkonziliaren“ Päpsten wie Johannes Paul II. (Ecclesia Dei von 1988) und Benedikt XVI. (Summorum Pontificum 2007) zumindest teilweise eingeräumt und ansatzweise korrigiert worden sind.

Diesen heutigen Akteuren gegenüber – und damit kommen wir zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück – können wir die von Kevin Tierney eingeräumte grundsätzliche Anerkennung der Gutwilligkeit nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, nachvollziehen. Wer nach 60 Jahren des Niedergangs und der Katastrophen immer noch an den längst widerlegten Rezepten festhält, deren sture Anwendung diesen Niedergang mit verursacht haben, und sie sogar mit immer höherem Anspruch auf Verbindlichkeit befestigen will, kann in unseren Augen keinen Anspruch auf mildernde Umstände erheben. Möge der Herr des Gerichtes, der sieht, was unsereins nicht sehen kann, Gründe erkennen, ihnen solche Ansprüche einzuräumen.

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