Zum Proprium der Totenmesse, und:
Ehe Abraham ward, bin ich
30. April 2025

Die Heimsuchung Abrahams zu Mamre
Die Sedisvakanz mit ihren Riten und Begängnissen bietet Gelegenheit und Anlaß, sich wieder einmal mit der Totenliturgie der Kirche zu befassen – nicht in der modernisierten Form, die in weißen Gewändern und als „Auferstehungsamt“ daherkommt, quasi als „santo subito“ für alle“, sondern in ihrer authentischen Form, wie sie sich in der römischen Kirche seit über 1000 Jahren entwickelt hat. Da begegnet man wieder einmal der großen Sequenz des Dies Irae, die zu Unrecht als bloßes Schreckensbild und Zeugnis klerikaler Angstmacherei verleumdet und „abgeschafft“ worden ist, steht doch in ihrem Zentrum die großartige Strophe:
Qui Mariam absolvisti,
Et latronem exaudisti,
Mihi quoque spem dedisti.
(Hast vergeben einst Marien,
Hast dem Schächer dann verziehen,
Hast auch Hoffnung mir verliehen. )
Das ist von der ersten bis zur letzten Strophe kein Horrorszenario, sondern Ausdruck großer, berechtigter, wenn auch nicht voraussetzungsfreier, Erlösngserwartung. Mehr dazu in unserem Artikel zu Allerseelen vom vergangenen Jahr.
Zum zweiten begegnet man in den Totenmessen, die sich sämtlich an der ersten Messe vom Allerseelentag orientieren, ein Offertorium, das nach seiner Form und mehr noch nach seinem Inhalt ganz einzigartig für die gesamte lateinische Liturgie ist (zumindest soweit unser Überblick reicht). Generell besteht das Offertorium im lateinischen Ritus aus einem bis selten vier responsorial vorgetragenen Psalmversen. In wenigen Fällen werden auch Verse aus anderen Gesängen der hl. Schrift verwandt. Das Offertorium der Totenmessen wird zwar ebenfalls responsorial vorgetragen, ist jedoch nicht aus der hl. Schrift genommen und verweist auch nicht auf eine inhaltlich passende Schriftstelle. Es ist ein von Theologen verfaßter Text, der trotz seiner Kürze fundamentale Glaubenswahrheiten zum Ausdruck bringt – Glaubenswahrheiten, die in der modernen Kirche an den Rand gedrängt oder explizit bestritten werden, aber auch in der Tradition oft „übersehen“ werden und in Gefahr sind, aus dem Bewußtsein zu schwinden.
Hier zunächst der deutsche Text der eigentlichen Oration, so wie er dem Schott von 1953 zu entnehmen ist:

Herr Jesus Christus, König der Herrlichkeit, bewahre die Seelen aller verstorbenen Gläubigen vor den Qualen der Hölle und vor den Tiefen der Unterwelt. Bewahre sie vor dem Rachen des Löwen, daß die Hölle sie nicht verschlinge, daß sie nicht hinabstürzen in die Finsternis. Vielmehr geleite sie Sankt Michael, der Bannerträger, in das heilige Licht, das Du einstens dem Abraham verheißen und seinen Nachkommen.
Der erste Abschnitt dieser Oration bringt eine Vielzahl von Bildern aus den Psalmen und aus dem Neuen Testament, die keinen Zweifel daran lassen, daß der Ort der Verdammnis kein Hirngespinst mittelalterlicher Theologen ist, sondern klare Aussage der hl. Schrift. Es gibt eine Hölle. Gleichzeitig macht die Unterschiedlichkeit der verwandten Bilder klar, daß uns nichts über Ort und Beschaffenheit der Hölle geoffenbart ist – außer, daß Christus und er alleine darüber befindet, wessen Schicksal sich dort erfüllt. Der hl. Erzengel Michael – und wir dürfen ergänzen, andere (Schutz-)Engel und Heilige – können die Menschen dabei unterstützen, so zu leben, daß sie vor dem Urteil Christi bestehen.
Und dann kommt ein Schlußabschnitt, der so kurz ist, daß seine Bedeutung leicht übersehen werden kann. Er sagt nichts anderes aus als das, daß derjenige, der Abraham und seinen Nachkommen unter den Eichen von Mamre das Versprechen der Erlösung gegeben hat, kein anderer ist als der Herr Jesus Christus selbst, geboren von Maria der Jungfrau und gekreuzigt auf Golgatha. Wir wissen zwar und glauben, daß Jesus Christus, die zweite Person in der hochheiligen Dreifaltigkeit, von Ewigkeit her ist, und daß, wie es gerade das Evangelium vom Passionssonntag (Johannes 8, 56) gesagt hat „Vater Abraham seinen Tag gesehen“ hat. Doch das wird zumeist – auch in der oben genannten Ausgabe des Schott – im Sinne einer dem Abraham gewährten prophetischen Vorausschau auf künftige Dinge verstanden – nicht von einer direkten Begegnung über die Jahrtausende hinweg.

Wenn von einer unmittelbaren Begegnung der Vorväter mit Jahveh, dem Gott Israels, die Rede ist, greift unsere Vorstellung zum Bild des Altehrwürdigen mit dem weißen Bart, geradezu ikonisch versinnbildlicht in der Darstellung des Schöpfergottes in Michelangelos “Erschaffung Adams“ in der sixtinischen Kapelle. So hat es die bildhafte Kunst der westlichen Christenheit in tausend Variationen hervorgebracht hat – und macht sich damit ein Bild, wo kein Bild sein sollte, denn das Gesicht des Vater selbst „kann und darf niemand sehen und am Leben bleiben“ (Exodus 33, 20); der Vater „wohnt in unzugänglichem Licht“. (1. Tim 6, 16). Das den Menschen zugewandte und gezeigte Gesicht Gottes ist Christus, ER selbst ist Jahweh, der noch nicht in seiner unendlichen Seinsfülle erkannte Gott Israels. Wer mich sieht, sieht den Vater. (Joh. 14,9)
Der Gott Abrahams und Israels – das IST Christus. Und deshalb sind die Menschen, die an ihn so, wie ER sich offenbart, glauben und ihn anbeten, von Anfang an das Eine Volk Gottes – die frommen im Bund Abrahams beschnittenen Juden der Väterzeit ebenso wie die nach Vollendung der Offenbarung auf Christus getauften und in ihm lebenden Nachkommen Israels und der Heidenvölker gemeinsam.
Ungläubige (nicht mehr und nicht weniger heißt das aus der Karfreitagsliturgie der Kirche getilgte „perfidis“) Juden – d.h. Nachfahren Abrahams, die seit zweitausend Jahren die Anerkennung dessen verweigern, der in sein Haus kam und von den Seinigen nicht aufgenommen wurde (Joh. 1, 11) – hören das verständlicherweise nicht gerne, und die Kirche Christi neigt – unverständlicherweise – dazu, das gar nicht mehr oder nur im Flüsterton auszusprechen. Wahr bleibt es trotzdem, und das Offertorium der Totenmesse faßt diese Wahrheit in Blick auf die letzten Dinge in wenigen Worten in einem unerhört großen Bogen zusammen: Vom Heilsversprechen (Gen 18, 18), das der in dreieiniger Gestalt erschienene Herr dem Abraham unter den Eichen von Mamre gegeben hat, bis zu dessen Einlösung am Holz des Kreuzes.

Die Kirchen des Ostens tun sich mit der Erkenntnis und Verinnerlichung dieser Zusammenhänge insoweit etwas leichter, als sie nicht der Versuchung erlegen sind, sich von dem den Augen entzogenen Vater, den kein Lebender je gesehen hat, ein menschliches Bild zu machen. Wer will, mag darin eine gute Frucht jener puristischen Bewegung sehen, die den ansonsten so verhängnisvollen byzantinischen Bilderstreit des 8. Jahrhunderts hervorbrachte. Jedenfalls wird in den bildlichen Darstellungen zum Alten Testament in der Kunst des Ostens stets der durch den Kreuz-Nimbus kenntlich gemachte Christus dargestellt, wo die Sehgewohnheiten des Westens den Vater als Uralten mit langem weißen Bart erwarten würden.

Die Verschiedenheit der Bilder im Osten und im Westen bedeutet zwar keinen Unterschied in der Dogmatik, hat aber doch zu verschiedene „Anschauungsweisen“ geführt. Die „Einheit in der Dreiheit“ wird durch den Verzicht auf eigne Bildsymbole für den Vater und den Hl. Geist deutlicher vor Augen gestellt. Die Menschengestalt bleibt das Proprium der inkarnierten Gottheit, durch die die ganze materielle Welt erschaffen ist. Wenn die Dreiheit als solche in den Kirchen des Ostens eigenes Bildthema ist, dann zumeist in der Art der bekannten Trinitäts-Ikone Rubljews, die den dreieinigen Besucher Abrahams mit den gleichen menschlichen Gesichtszügen darstellt und nur in Gestik und Attributen Verschiedenheit mehr andeutet als abbildet.
Auch hier sind Mißverständnisse oder Umdeutungen denkbar – bis dahin, daß in der eingangs gezeigten Darstellung der Heimsuchung Abrahams die zentrale Gestalt durch eben diese Stellung und durch den Kreuzesnimbus (der bei Rubljew nicht nachweisbar ist!) so hervorgehoben ist, daß die beiden anderen als Begleitfiguren aufgefasst werden könnten.
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