Franziskus - der letzte Papst der Moderne?
06. Mai 2025

Pius IX. gilt als erster Papst der Moderne - war Franziskus der letzte?
Die nicht abreißen wollende Kette der Krisen, Kriege und Wahnsinnstaten – vom Schul-Massaker bis zu Regierungserklärungen – weckt bei immer mehr Menschen den Verdacht, die „Moderne“ westlichen Typs sei am Ende, und das in jeder Beziehung. Vor diesem Hintergrund diskutiert Dan Hitchens, leitender Redakteur bei First Things, die These, Franziskus sei möglicherweise „Der letzte Moderne Papst“ gewesen. Wir bringen Auszüge und empfehlen sehr die Lektüre des vollständigen Artikels.
von Dan Hitchens
Für mich haben die Franziskus-Jahre den unverkennrbaren Charakter eines Endes, eines letzten Hurra. Niemand hätte das 2013 vorhergesagt. Zunächst einmal war Franziskus schlicht ein Phänomen. Eine Zeit lang war er so unausweichlich wie Taylor Swift im vergangenen Sommer. Die Schlagzeilen hallten tagelang durch die Medien. Sein Gesicht – großväterlich, klug, meist mit einem breiten Lächeln – war allgegenwärtig. Das Pariser Klimaabkommen, die Verhinderung einer US-Militärintervention in Syrien, die friedlichen Wahlen 2016 in der Zentralafrikanischen Republik und eine Flut von Geständnissen in England wurden allesamt seinen Bemühungen zugeschrieben.
Darüber hinaus sorgte er immer wieder für Überraschungen. Neben Franziskus wirkt Donald Trump erschreckend vorhersehbar. Gerade als man versucht war, ihn als Liberalen abzutun, maßregelte er die deutschen Bischöfe oder gab eine donnernde Erklärung zur „Gender-Ideologie“ ab. Gerade als man seinen Kommentar genoss, „Wenn wir Jesus Christus nicht verkünden … würden wir zu einer mitfühlenden NGO und nicht zu einer Kirche“, veröffentlichte er ein schwülstiges Dokument in tadellosem UN-Slang. Seine schärfsten Kritiker waren von einer öffentlichen Geste der Freundlichkeit oder einer schönen Mini-Predigt über die Liebe Gottes überwältigt. Bis dahin undenkbare Initiativen stürzten auf die Kirche: eine Amazonas-Synode; eine Synode über den Vorwand, die katholische Sakramentenlehre nicht ändern zu wollen; eine Synode zur Synodalität; ein Verbot der Werbung für die lateinische Messe in Gemeindemitteilungen; eine Filmkollaboration mit Wim Wenders; ein Deal, der der Kommunistischen Partei Chinas neue Machtbefugnisse über Bischöfe und Priester einräumt. Selbst die abscheulichen Vertuschungsskandale, wie die Affären um Zanchetta und Rupnik, hatten etwas Wahnsinniges, Unerfindliches an sich. Er besuchte 68 Länder, veröffentlichte Millionen von Wörtern und überarbeitete weite Teile des Kirchenrechts. Dies war ein Pontifikat im Stil Napoleons und Heinrichs VIII. Fast konnte man die Anzeichen einer zu Ende gehenden Ära übersehen.
Diese Ära hatte 1864 begonnen, als Papst Pius IX. die europäische und amerikanische Öffentlichkeit empörte, indem er die Vorstellung verurteilte, „der römische Pontifex könne und müsse sich mit Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation abfinden und sich damit arrangieren“. Das war natürlich eine durch und durch moderne Auffassung. Wie Roger Scruton bemerkte, ist eine Definition von „Modernität“ der Zustand, in dem Menschen darüber nachdenken, was es bedeutet, modern zu sein. Und 150 Jahre nach Pius‘ Kampf herrschte allgemein der Eindruck, daß die Kirche intensiv darüber nachdenken sollte und daß es die Aufgabe des Papstes sei, ihr Verhältnis zur modernen Welt zu definieren.
Anderthalb Jahrhunderte lang konnte man katholische Denker und Führer – und insbesondere Päpste – anhand ihrer Haltung zu Pius' Worten kategorisieren. Manche versuchten, den Glauben mit „Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation“ zu vereinbaren. Andere erklärten diesen drei Reitern den Krieg. Die meisten waren darauf aus, beide Ansätze einigermaßen schlüssig zu verbinden. Die faszinierendsten Persönlichkeiten, wie Newman und Ratzinger, waren die Synthetiker: Genies, die erkannten, was aus ihrer Zeit akzeptiert werden konnte und was nicht, und so unaufmerksame Beobachter im Unklaren darüber ließen, auf welcher Seite sie wirklich standen.
Doch könnte jeder irgendwo zwischen diesen beiden Ansätzen angesiedelt werden: Die Kirche als Festung, das letzte mächtige Widerstandselement gegen die zersetzenden Kräfte der modernen Welt; oder die Kirche als eleganter, aber eher verstaubter Palast, der seine Türen und Fenster für neue Einflüsse öffnen und sich vielleicht auch von einigen Möbeln trennen muss.
Jede Verallgemeinerung über Papst Franziskus ist riskant und bietet Anlass zu zahlreichen Gegenbeispielen. Doch insgesamt war das Pontifikat von Franziskus der entschlossenste Versuch, den Gegenpol zu Pius IX. einzunehmen: den Versuch einer Versöhnung und Auseinandersetzung mit Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation.
Mit Fortschritt, denn der verstorbene Papst zog ständig eine Unterscheidung zwischen der Vergangenheit der Kirche und der angeblich weiseren, offenherzigeren Gegenwart. „Es gab eine Zeit, selbst in unseren Kirchen, da sprach man von … einem gerechten Krieg. Heute können wir nicht mehr so sprechen.“ Oder: „Die Todesstrafe ist inakzeptabel, sie ist unmoralisch. Vor 50 Jahren nicht … aber es gab ein besseres Verständnis von Moral.“ Im weiteren Sinne: im jahrzehntelangen Angriff auf die Integrität der katholischen Lehre, der die ewige Lehre der Kirche auf tausenderlei Weise untergräbt, ohne jemals zu wagen, sie zu ändern – eine Kontroverse , die es hier nicht wert ist, wieder aufgewärmt zu werden, die aber sicherlich das herausragende Ereignis des Pontifikats war. Ob dies wirklich so „mitfühlend“ war, wie Franziskus‘ Anhänger behaupteten, ist eine andere Frage: Zeigt man Mitgefühl beispielsweise gegenüber Geschiedenen und Homosexuellen, indem man ihnen weder beibringt, wie man im Licht der christlichen Lehre lebt, noch, wie man ohne sie lebt, sondern ihnen stattdessen suggeriert, daß alles unfassbar kompliziert sei? Dennoch zeugte es zweifellos von einer gewissen Art progressivem Denkens, das diesen Papst auszeichnete.
Mit dem Liberalismus, insofern der Heilige Vater generell bestrebt war, den Katholizismus als viel toleranter darzustellen, als man es bisher verstanden hatte. „Wer bin ich, daß ich urteile?“, fesselte die öffentliche Wahrnehmung, weil es wie eine Versöhnung mit dem Liberalismus klang. Franziskus deutete gern an, daß die Kirche in Bezug auf das Zusammenleben gelassener sein sollte, und äußerte sich zweideutig zur Wahrheit nichtchristlicher Religionen. Proselytismus sei „Unsinn“, erklärte er – wiederum etwas zweideutig, aber wer eine liberale Botschaft suchte, fand sie sofort.
Die moderne Zivilisation zeigt sich am deutlichsten in seiner Bereitschaft, gegen die lateinische Messe vorzugehen, die für ältere Generationen progressiver Katholiken das ärgerlichste Symbol für die starrsinnige Unveränderlichkeit der Kirche ist; in seiner häufigen Polemik gegen „Starrheit“ und Traditionalismus; und, noch undefinierbarer, in seinem Auftreten – seinen häufigen Andeutungen, er sei nicht wie die anderen Päpste, seinem ungezwungenen Umgang mit den zeitgenössischen Medien und seinem Gespür für deren Anliegen. Er war, wie der Rolling Stone es formulierte, „der coole Papst“.
All das war so fesselnd, daß man leicht übersehen konnte, daß den drei apokalyptischen Reitern Pius' IX. inzwischen die Luft ausgegangen ist. „Fortschritt“ klingt nicht mehr so gut, geplagt von technologischer Stagnation, sinkenden Geburtenraten, Klimakrise, schwindenden Wirtschaftsaussichten, künstlerischer Wiederholung und kulturellen Selbstzweifeln. Der Liberalismus ist noch nicht ganz am Ende, aber hören Sie, wie deprimiert oder verzweifelt Liberale heutzutage klingen und wie sehr die jüngsten Ereignisse ihr Projekt ins Wanken gebracht haben. Ist der hitlerische Pogrom der Hamas vom 7. Oktober und Benjamin Netanjahus wahlloses Massaker an Palästinensern als Reaktion darauf ein Fall von Liberalismus vs. Illiberalismus? Sind Transrechte diese Woche liberal? Ist Meinungsfreiheit liberal?
Was die moderne Zivilisation betrifft, wer weiß noch, was sie bedeutet oder was es bedeutet, sich mit ihr zu versöhnen. Ist JD Vance eine moderne oder eine veraltete Figur? Ist Kanye West das? Ist Narendra Modi oder Xi Jinping das? Prägt die Kultur beispielsweise Nigerias (Durchschnittsalter: 19) die moderne Welt mehr oder weniger als die Japans (50) oder Deutschlands (47)?
Papst Franziskus war der letzte moderne Papst – nicht in dem Sinne, daß der nächste ein völlig auf den Kopf gestellter Judas-als-Pius-XIII.-Charakter sein wird, der Mantillen zur Pflicht erklärt und hässliche Dinge über Muslime sagt; sondern in dem Sinne, daß der nächste Papst sich nicht länger dazu aufgerufen sehen wird, die Beziehung der Kirche zur Moderne zu definieren – oder daß sein Unterfangen, falls er es doch versuchen sollte, zunehmend aussichtslos erscheinen wird. (...)
Die Kirche ist nicht mehr das imposante Gebilde eines imperialen Papsttums , dem ein gefügiger Episkopat dient. Die afrikanischen Bischöfe können, wenn sie aufgeschreckt werden, den vatikanischen Doktrinchef dazu zwingen, ein Dokument faktisch zurückzuziehen; im Westen sind es nicht Männer mit Mitra, sondern Podcaster und Influencer, die die Grenzen katholischer Lehre und Praxis überwachen. Und keine progressive Jugend und keine verkrusteten Konservativen mehr: Die Priesterseminare sind voll von eifrigen jungen Männern, die irgendwo rechts von Johannes Paul II. stehen. Auch keine paradigmenwechselnden Enzykliken mehr, wenn die Menschen sich mit etwas Längerem als einem Instagram-Post schwertun.
Selbst wenn ein Papst das Verhältnis der Kirche zur modernen Welt neu definieren wollte, wäre er dazu nicht in der Lage; ein Punkt, der sich im Chaos und den Kontroversen des Pontifikats von Franziskus widerspiegelt. In gewisser Weise versuchte er, die Kirche ins 21. Jahrhundert zu führen. Doch nach so vielen Skandalen und Misserfolgen ist die Führung der Kirche deutlich schwieriger geworden: Klerus und Laien müssen bereits aus eigener Kraft mit der Welt zurechtkommen, ohne auf eine Synode oder ein apostolisches Schreiben zu warten, das ihnen sagt, was sie tun sollen. Und auch die moderne Welt hat sich verändert und ist in eine Reihe konkurrierender Modernitäten zerfallen – mit einigen von ihnen ist der Dialog deutlich schwieriger, als die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils es sich vorgestellt zu haben scheinen. (...) Am Abend seiner Wahl stand Papst Franziskus auf dem Balkon des Petersdoms und begann seine Rede mit dem berühmten Gruß „Buona sera“. Damit sprach er mehr Wahrheit, als ihm bewußt war.
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