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Der leidende Gottesknecht des Jesaja und der Kreuzestod Christi

29. März 2024

1 - Liturgie und Theologie

Der Holzschnitt nach Schnorr von Karolsfeld zeigt im Vordergrund den Propheten Jesaja und im Hintergrund die Visionen von der Geburt Jesu, vom Tod am Kreuz und von der Auferstehung

Der Prophet Jesajas und seine Visionen vom Messias

Schon der hl. Paulus hatte es immer wieder schmerzhaft erfahren: Der Erlöser am Kreuz war den Juden ein Ärgernis, und den Heiden eine Torheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert – nur daß inzwischen auch viele, die den Namen Christen führen, den Anblick des leidenden Erlösers nicht mehr ertragen und Bild und Begriff von sich weg zu schieben versuchen. Der schmerzentstellte Cruzifixus weicht dem glatt gehobelten Holzkreuz oder besser noch einer naturbelassenen Astgabel: Da sieht man nicht, daß auch Menschenwerk, Blut und Schuld dabei war. Das Altarkreuz macht sich unauffällig als Liegekreuz, um den Blick auf den „Vorsteher“ der Eucharistiefeier nicht zu verdecken, von der man vordem als „Messopfer“ zu sprechen gewohnt war. Schuld, Opfer und Erlösung sind fremd gewordene Konzepte, wie man heute sagt.

Wie bei Paulus zu erfahren ist, war das bei den Juden der Zeit Christi durchaus ähnlich. Sie brachten zwar Tieropfer im Tempel dar, aber daß der von ihnen erhoffte Messias sich selbst zum Opfer bringen würde, entsprach so bei den meisten nicht ihren Erwar­tun­gen. Dabei hatte der Her sein Volk doch in einem Erzeihungsprozess von 1000 Jahren darauf vorbereitet, daß es den Messias erleben würde – aus dem Geist dieser Erziehung heraus hatte Maria ihr „Sieh, ich bin die Magd des Herrn“ gesprochen und Simeon ange­sichts des hilflosen Kindes aus ärmlicher Familie gesungen: „Ich habe das Heil geschaut das Du bereitet hast vor allen Völkern“. Und gleichzeitig sah er das „Zeichen, dem wider­sprochen werden“ und das Schwert des Leides, das Marias Herz durchdringen würde.

Der bereits hier aufscheinende Zwiespalt ist typisch für das widersprüchliche Bild, das Israel sich von seinem Retter und Erlöser machte. Sowohl bei den Schriftgelehrten als auch beim einfachen Volk war man sich ganz und gar nicht darüber einig, aus welcher Not der Gesalbte des Herrn das Volk erretten sollte: War es die politische Machtlosigkeit, die aus dem einst so stolzen Königreich Juda (so zumindest sah man die Vergangenheit) den Teil einer unbedeutenden römische Kolonie gemacht hatte? War es die wirt­schaftli­che Notlage, die so viele Menschen um ihren Lebensunterhalt gebracht hatte, daß sie den Wanderprediger zum König machen wollten, nachdem er auf wunderbare Weise die Hörer einer seiner ganztägigen Predigten mit Brot und Fisch gesättigt hatte? Von welcher Seite man es auch ansieht: Die Erfüllung durchaus irdischer Hoffnungen stand im Zentrum der messianischen Erwartungen – und dazu konnte ein schmachvoller Tod am Kreuz nun ganz und gar nicht passen.

Dieser Mangel an Vorstellungskraft ist insoweit verwunderlich, als die hl. Schrift, die von den Juden – zumindest ihren Schriftgelehrten – unablässig studiert und zitiert wurde, über den erhofften Messias einerseits nur sehr wenig Konkretes weiß – andererseits aber doch recht viel über eine Erlösergestalt auszusagen hat, das nicht auf einen mächtigen König oder „sozialrevolutionären“ Volkstribunen hindeutet, sondern auf einen unschul­dig Verfolgten und Getöteten, aus dessen schmachvollen Tod auf wunderbare Weise Rettung und Heil hervorgehen. Die Rede ist vom „leidenden Gottesknecht“, dem der Prophet Jesaja vier Lieder seiner Schriften gewidmet hat.

Am frappierendsten als Prophezeiung des leidenden Erlösers erkennbar ist das (irgendwann um das 4. Jahrhundert entstandene) 53. Kapitel des Jesajasbuches, aus dem wir hier bereits zweimal zitiert hatten: Einmal aus der „Einheitsübersetzung“ von 1980 und einmal nach einer Übersetzung aus dem evangelikalen Umfeld. Wir ergänzen diese Reihe heute durch eine Wiedergabe der gleichen Stelle in der deutschen Übersetzung des jüdischen Bibelwissenschaftlers Naftali Herz, die beim Jewish Publishing House in Jerusalem erschienen ist.

Warum zum dritten Mal eine Übersetzung? Das jüdische und das christliche Alte Testament unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich Zahl, Umfang und Reihenfolge der aufgenommenen Schriften, sondern an vielen Stellen auch im Text selbst und seiner Inter­pretation. Teils, weil die Texte wirklich unklar sind und und verschiedene Deutungs­mög­lich­keiten zulassen, teils aber auch deshalb, weil die verschiedenen Überlieferungs­stränge dazu neigten, die Interpretation in ihrem Sinne zu vereindeutigen. Insbesondere die masoretischen Redakteure der hebräischen Bibel, die in den Jahren nach der Zerstörung des zweiten Tempels das Erbe Israels sammelten und „reinigten“, neigten dazu, prophe­tische Passagen, die den Christen besonders lieb und teuer waren, auf die eine oder andere Weise unkenntlich zu machen. Die Lieder vom Leidenden Gottesknecht scheinen ihnen dabei jedoch entgangen zu sein. Sie zeichnen auch in der Form, wie sie heute noch in der hebräischen Bibel stehen, ein Bild des verhöhnten, leidenden, getöteten und wiederauferstehenden Messias, das auch den Frommen zur Zeit Jesu bekannt gewesen sein dürfte.

Die stilistischen Eigenheiten der Sprache von Naftali Herz (geb. 1886 in Lemberg, gest. 1973 in Jerusalem) erklären sich zumindest teilweise aus seiner Prägung durch die Sprache des Expressionismus im Wien und Berlin der 20er Jahre, wo er (bis 1933) Profesor der Bibelkunde war.

Es begint ein Zitat

Wer glaubte unserer Kunde / des Ewgen (so übersetzt Herz das Tetragramm JHWH) Arm, wem war er offenbar? / Aufstieg er wie ein Schössling vor sich hin / und wie die Wurzel aus des Durstes Land. / Hat nicht Gestalt, noch Hoheit / daß wir ihn ansähn / kein Aussehn, daß wir sein begehrten. / Verachtet und gemieden von den Menchen / ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit / und daß vor ihm das Antlitz man verbarg / verachtet, daß wir ihn nicht zählten. / Doch unser Kranken ists, das er getragen / und unsre Schmerzen, er hat sie gelitten. / Wir aber glaubten ihn behaftet / von Gott geschlagen und erniedert. / Er aber ward durchbohrt ob unsrer Frevel / Zermalmt um unsre Sünden / die Züchtigung für unser Wohl lag auf ihm / durch seine Striemen ward uns Heilung. / Wir alle irrten wie die Schafe / ein jeder seines Weges kehrten wir; / der Ewge aber schickt’ ihm zu / unser aller Schuld. / Bedrängt, war er gebeugt / und öffnet nicht den Mund / wie Lamm, zur Schlachtung hingeführt / und wie das Schaf, verstummt vor seinen Scherern / und öffnet nicht den Mund. / Aus Haft und aus Gericht ward er geholt / und seinen Umlauf, wer kann ihn erzählen / wie abgeschnitten er aus Lebens Land? / Ob meines Volkes Frevel traf ihn Schaden / und gab bei Übeltätern man sein Grab / bei dem, der reich an seinen Todessünden; / ob er doch Raub nicht übte / kein Trug in seinem Munde war. / Der Ewge aber wollte ihn zerschlagen / er macht ihn Krank / ob Du es merkst, daß Schuldopfer sein Leben.

Er schaut noch Samen / lebt noch lang / des Ewgen Wollen soll durch ihn noch glücken. / Nach seiner Seele Pein tränkt er sich satt / durch seine Kenntnis schafft er Recht Gerechtem / mein Knecht, den Großen / und ihre Sünden trug er; / drum geb ich Anteil mit den Großen ihm / und mit den Mächtgen teilt er Beute / weil er dem Tod sein Leben hingegossen / und unter die Verräter war gezählt / wo er der Großen Sünde trug / und der Verräter Schickung auf sich nahm.

Wer will, kann die hier jetzt zugänglich gemachten drei Übesetzungen vrgleichen; er wird dabei auf einige sehr charakteristische Unterchiede stoßen, die freilich in keinem Fall aus dem Rahmen dessen herausfallen, was als mögliche Interpretation zu rechtfertigen wäre.

So bietet also Jesaja 53 wohl ein ziemlich zutreffendes Bild des jüdische Kenntnisstands zum Thema „Sühneopfer des Gerechten“ – und unwillkürlich drängt sich die Frage auf, warum so viele Juden (damals wie heute) nicht im Stande waren, in dem Jesus aus Galiläa, der doch erst wenige Tage zuvor bei seinem Einzug als Messiaskönig gefeiert worden war, nun auch den leidenden Gottesknecht zu erkennen.

Die einfache Antwort auf diese Frage unter Inanspruchnahme von ein wenig Küchen­psychologie ist schnell parat: Natürlich fällt es leichter, sich mit der Erwartung könig­lichen Glanzes zu identifizieren als mit Schmerz, Blut und grausamem Tod. Und außerdem: So wenige waren es ja gar nicht, die auch und gerade nach diesem Tod in dem Opfer pharisäischer Machtintrigen und römischer Verwaltungsklugheit das größere Sühneopfer für die Schuld des Volkes erkannten. Wir haben keine Statistik – aber nach der Apostelgeschichte (2, 41) ließen alleine nach einer Predigt des Petrus 3000 Juden sich taufen, und die neue Gemeinschaft „war beim ganzen Volk beliebt“ (2,47).

Aber eine Minderheit blieben sie, und das führt zum schwierigen Teil einer Antwort, die unsereins hier zunächst nur als Vermutung andeuten kann. Das Volk Israel war in seiner ganzen uns erschließbaren Geschichte stets tief gespalten. Vom Kampf zwischen Saul und David bis zum Streit zischen denen, die den auf einem Eselsfüllen einreitenden Jesus von Nzareth als Messias erkannten und denen, die drei Tage später schrien: „Wir wollen Barrabas“ – der als Hauptmann eines Guerilla-Trupps gegen die römische Besatzung zum Tode verurteilt worden war. Und immer wieder gaben die den Ausschlag, die sich gegen Gottes offenbarten Willen stellten. Das ist geradezu der Grundzug der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen Jahweh und seinem Auserwählten Volk, hier beschrieben in den Worten von Psalm 80, 9 – 13:

Es begint ein Zitat

Höre, mein Volk, ich will dich mahnen! / Israel, wolltest du doch auf mich hören!
Für dich gibt es keinen andern Gott. / Du sollst keinen fremden Gott anbeten.
Ich bin der Herr, dein Gott, / der dich heraufgeführt hat aus Ägypten. / Tu deinen Mund auf! Ich will ihn füllen.
Doch mein Volk hat nicht auf meine Stimme gehört; / Israel hat mich nicht gewollt.
Da überließ ich sie ihrem verstockten Herzen / und sie handelten nach ihren eigenen Plänen.

Es ist diese Stelle des alten Testaments, die den studierten Schriftgelehrten Paulus dazu bewog, in 2. Korinther 3 von dem verhärteten Sinn und dem Schleier über dem Herzen der Juden zu sprechen, der einen Teil Israels immer wieder dazu brachte, sich gegen den doch erkennbar geoffenbarten Plan des Herrn zu stellen – geofenbart nicht nur in den Lieder vom Gotttesknecht, sondern zum Beispiel auch in den Psalmen, mit erschrek­kender Deutlichkeit insbesondere in Ps. 21, aber nicht nur dort. Ein „halsstarriges Volk“, wie schon Moses wußte (Exodus 33,5), und seit sie dem Mann am Kreuz die Anerken­nung versagten, hat sich gerade bei den selbstgerechten Frommen der Schleier immer enger um ihr Herz gelegt. Deshalb betete die Kirche viele Jahrhunderte lang am Karfreitag in den großen Fürbitten: Lasset uns auch beten für die ungläubigen Juden. Gott unser Herr möge den Schleier von ihren Herzen wegnehmen, auf daß auch sie unseren Herrn Jesus Christus erkennen.

Als Konzession an einen insbesondere in Deutschland wirkenden Zeitgeist hat die Kirche das Gebet in dieser Form aus der Liturgie gestrichen. Als „prosemitisch“ kann das nur der verstehen, dem die Zustimmung durchaus irdisch orientierter jüdischer Interessenvertreter mehr gilt als das Seelenheil, von dem doch auch die „störrischen“ Angehörigen des Volkes Israel durchaus nicht ausgeschlossen sein sollen.

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