Welche Liturgie wollte das Konzil?
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- 30. August 2012
S. E. Walter Kardinal Brandmüller hat dieser Tage in einem Interview mit dem in Rom lebenden Journalisten Guido Horst wieder hervorgehoben, daß die Liturgiereform des Missale von 1969 und vor allem die darauf aufbauende Praxis der letzten 50 Jahre nicht dem entspreche, was das Konzil gewollt habe.
Dass die nachkonziliare Liturgieform mit ihren Fehlentwicklungen und Umbrüchen nicht dem Konzil und seiner – nach wie vor noch nicht wirklich umgesetzten – Liturgiekonstitution anzulasten ist, sei ausdrücklich bemerkt. Die weithin erfolgte Abschaffung des Latein und des Gregorianischen Chorals wie auch die nahezu flächendeckende Aufstellung von Volksaltären können sich keinesfalls auf Vorschriften des Konzils berufen.
Insbesondere sieht man im Rückblick deutlich, mit welchem Mangel an seelsorgerischem Einfühlungsvermögen, an pastoralem Hausverstand bei der Liturgiereform vorgegangen wurde. Man denke nur an die geradezu an den Bildersturm des achten Jahrhunderts erinnernden Exzesse in den Kirchen, die zahllose Gläubige heimatlos gemacht haben. Doch darüber ist längst alles gesagt.
Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Liturgie eine elementare Lebensäußerung der Kirche ist, die zwar der geschichtlichen organischen Entwicklung unterliegt, nicht aber, wie geschehen, per ordre de Mufti abrupt dekretiert werden kann. An den Folgen leiden wir noch heute.“
In dem einen hat der Kardinal sicher recht: Es ist von heute aus gesehen völlig unverständlich, wie unter Berufung auf das „Pastoralkonzil“, das doch äußerste Behutsamkeit im Umgang mit allem und jedem zur höchsten Maxime erhoben hatte, mit äußerster Strenge und Radikalität eine Liturgiereform exekutiert werden konnte, die bei jedem Zeitzeugen den Eindruck eines tiefen Bruches hervorrufen musste.
Der damalige Kardinal Joseph Ratzinger hat das 1996 so ausgedrückt:
Eine Gemeinschaft, die das, was ihr bisher das Heiligste und Höchste war, plötzlich als strikt verboten erklärt und das Verlangen danach geradezu als unanständig erscheinen läßt, stellt sich selbst in Frage. Denn was soll man ihr eigentlich noch glauben? Wird sie nicht morgen wieder verbieten, was sie heute vorschreibt?
Diese verhängnisvolle Entwicklung läßt sich allerdings nicht alleine darauf zurückführen, die Liturgierevolutionäre von 1969 – die für ihr Werk immerhin die Approbation des Papstes erhielten – hätten sich gegen den in Sacrosanctum Concilium niedergelegten Willen des Konzils versündigt. Dieses Dokument – ebenso wie die meisten anderen – ist nämlich kaum geeignet, den „sicheren Kompass“ abzugeben, von dem in Bezug auf die Konzilstexte immer wieder die Rede ist. Dazu ist es zu widersprüchlich oder, wenn einem dieser Ausdruck zu hart ist, viel zu „offen“ formuliert.
Wie diese „Offenheit“ sich in der Praxis auswirkt, beschreibt in dankenswerter Deutlichkeit der amerikanische Theologe Alan Schreck in seinem Buch Vatican II, das er vor zehn Jahren zur Vorbereitung des damals anstehenden 40 Jahrestags des „Superkonzils“ verfasste. Ein bezeichnendes Zitat:
Wir haben davon gesprochen, daß den Lehren des Konzils „Zweideutigkeit“ vorgeworfen wird. In der Konstitution über die heilige Liturgie beobachten wir den Reflex von zwei Bedenken, mit denen sich viele Bischöfe damals beschäftigten. Das gibt uns ein rechtes Verständnis kirchlicher Autorität.
Auf der einen Seite wollten die Bischöfe die Kontinuität mit (und die Gültighkeit) altehwürdiger Traditionen wie des Gebrauchs des Lateinischen, des Gregorianischen Chorals und der Pfeifenorgel in der Gottesdienstlichen Praxis bekräftigen (s. Nr. 36, 116, 120). Andererseits entschieden sich die Bischöfe für die „volle und tätige Teilnahme des ganzen Volkes als das allem anderen übergeordnete Ziel“ bei der Erneuerung der Liturgie. (S. Nr. 14)
Und deshalb äußerten sie sich nicht nur zustimmend zu den hergebrachten Formen der liturgischen Sprache und Musik, sondern mit der Absicht, deren Gebrauch auszuweiten, legten sie auch fest, daß andere Sprachen (nämlich die Umgangssprachen) und musikalische Formen verwandt werden könnten, wenn die Bischöfe entschieden, daß dadurch die „volle und tätige Teilnahme des ganzen Volkes“ gefördert werde. Unmittelbar nachdem die Konstitution davon spricht, Latein im Lateinischen Ritus zu erhalten, erklärt die Konstitution: Da bei der Messe, bei der Sakramentenspendung und in den anderen Bereichen der Liturgie nicht selten der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann, soll es gestattet sein, ihr einen weiteren Raum zuzubilligen.“ (Nr. 36, Abs. 2) Das Dokument fährt dann fort mit der Erklärung, daß es den Bischöfen bzw. deren rechtmäßigen regionalen Körperschaften (Bischofskonferenzen) obliegt, „zu bestimmen, ob und in welcher Weise die Muttersprache gebraucht werden darf“.
Ebenso sagt die Konstitution, unmittelbar nachdem sie vom besonderen Rang der traditionellen Musik der Gregorianik und der Pfeifenorgel in der Liturgie gesprochen hat, daß „auch andere Arten der Kirchenmusik für die Feier der Liturgie verwandt werden können, wenn sie dem Geist der Liturgie entsprechen“ (Nr. 116) und die Instrumente „sich für den heiligen Gebrauch eignen oder für ihn geeignet gemacht werden können“. (120) Auch hier liegt die Entscheidung wieder im „Ermessen und der Zustimmung der für die einzelnen Gebiete zuständigen Autorität“. (...)
Obwohl also die Bischöfe auf dem Konzil hinsichtlich der Liturgie zwei Vorstellung hatten, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander standen – nämlich Kontinuität zur früheren Traditionenund Anpassung mit dem Ziel voller Teilnahme – sind die Konzilsdokumente hier keinesfalls zweideutig. Sie gegben ganz klar den Bischöfen die Vollmacht, zu entscheiden, in welchem Umfang die Umgangssprache und neue Formen der Musik und der Instrumentierung in der Liturgie genutzt werden können. Als die große Mehrheit der Bischöfe entschied, es sei pastoral vorteilhaft zu einer größtenteils (oder vollständig) muttersprachlichen Liturgie mit vielfach umgangssprachlichen Gesängen und neueren Formen der instrumentalen Begleitung überzugehen, um die „volle und tätige Teilnahme“ der Gläubigen zu fördern, verstießen die Bischöfe weder gegen den „Buchstaben“ des Konzils, noch gingen sie „über das zweite Vatikanum hinaus“.
So einfach ist das. Weil die Bischöfe nach dem Wortlaut der Dokumente die Vollmacht haben, den von der Konstitution vorgegebenen Rahmen auszufüllen, haben sie auch die „Autorität“, ihn zu sprengen und die Festlegungen des Rahmens ins Gegenteil verkehren. Und da sie dazu in den meisten Fällen auch die römische Approbation erhielten, muß man vermuten, daß auch „Rom“ selbst - wer immer das im konkreten Fall war - daran keinen Anstoß nahm.
Um Sacrosanctum Concilium allerdings so zu deuten, wie das hier geschehen ist, muß man schon einmal hier und da im zitierten Text der Konstitution etwas weglassen oder bei der Übersetzung ein wenig „über das zweite Vatikanum hinaus“gehen. Im Zitat aus Nr. 116 über die Musik „vergißt“ Schrenk die Einschränkung „besonders die Mehrstimmigkeit“, die ja doch vermuten läßt, daß die Konzilsväter nicht gerade an NGL-Banalitäten zu Gitarrenbegleitung gedacht haben, und wenn er „volle und tätige Teilnahme des ganzen Volkes“ als „das allem anderen übergeordnete Ziel“ der Liturgiereform bezeichnet, wählt er für „summopere est attendenda“ eine Übersetzung, die einem Latinisten zwar die Haare zu Berge stehen läßt, die aber im Wortlaut doch nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Die deutsche Fassung, die auch ihre Macken hat, ist hier mit „aufs stärkste zu beachten“ jedenfalls näher dran.
Und so bleibt es letztlich bei dem von Michael Davies unter dem Begriff der „liturgischen Zeitbomben“ beschriebenen Befund: Die Texte des 2. Vatikanum – hier konkret Sacrosanctum Concilium – enthalten immer wieder Wendungen die man bei gutem Willen im Sinne der Tradition, bei weniger gutem genausogut im Sinne des Bruches ausdeuten kann. Von „sicherm Kompass“ keine Spur – zumindest solange nicht, wie „Rom“ auch den abenteuerlichsten Umdeutungen seinen Segen gibt.